Rückblick auf die jüdische Geschichte des Wuppertals

Seit Anfang des 19. Jahrhunderts zogen aus dem Umland und auch aus weiter entfernten Gebieten jüdische Familien ins Wuppertal zu. Die Gegend war attraktiv geworden, weil nicht nur die Industrialisierung einen rasanten Aufschwung nahm und neue Arbeitsmöglichkeiten bot, sondern durch den Bau der Eisenbahn auch der Handel eine immer größere Rolle spielte. Hinzu kam eine in der französischen Verwaltungszeit angestoßene liberalere Einstellung im „Großherzogtum Berg“, die dazu führte, dass der Rheinische Provinziallandtag als erstes deutsches Parlament überhaupt am 13. Juli 1843 für die rechtliche und bürgerliche Gleichstellung der Juden stimmte. Gleichwohl dauerte es noch Jahre, bis der König das entsprechende Gesetz, im Konsens mit allen acht preußischen Provinziallandtagen, unterzeichnete. Das Datum 23. Juli 1847 steht seither in der Geschichte der Juden in Deutschland für den Beginn ihrer rechtlichen Emanzipation.Vgl. Ulrike Schrader/ Bastian Fleermann (Hg.): „… Beschränkungen der staatsbürgerlichen Rechte werden hierdurch aufgehoben.“ Die Emanzipation der Juden auf dem Rheinischen Provinziallandtag Düsseldorf, 13. Juli 1843, Wuppertal-Düsseldorf 2013.

Einwohnerbuch Elberfeld
Einwohnerbuch Elberfeld Bildnachweis: Stadtarchiv Wuppertal, 1702/1703

In der Mitte des 19. Jahrhunderts erfuhr die Zuwanderung daher einen enormen Schub, wie die folgende Tabelle zeigt:

Jahr Elberfeld gesamt davon jüdisch Barmen gesamt davon jüdisch
1810 18.783 87 16.289 10
1871 71.384 626 74.449 143
1910 170.195 1.918 169.214 643
1925 167.025 2.335 187.239 721

 

Im Januar 1852 gründeten die Juden des Wuppertals offiziell die „Synagogen-Gemeinde Elberfeld Barmen“ und stellten Religionslehrer und Vorbeter ein. 1810 war der erste jüdische Friedhof an der Weißenburgstraße in Elberfeld angelegt worden, der 1869 erweitert werden musste.

Luftbild der Innenstadt Elberfeld, 1928. Im Kreis die Synagoge (1865-1938)
Luftbild der Innenstadt Elberfeld, 1928. Im Kreis die Synagoge (1865-1938) Bildnachweis: Archiv Begegnungsstätte Alte Synagoge
Synagoge Barmen (1897-1938)
Synagoge Barmen (1897-1938) Bildnachweis: Archiv Begegnungsstätte Alte Synagoge

Im Jahr 1865 baute die Gemeinde ihre erste repräsentative Synagoge in Elberfeld an der Genügsamkeitstraße, schon im jüdisch-liberalen Geist mit Orgel, Bankreihen und Ausrichtung auf das Vorlesepult direkt vor dem Tora-Schrank. 1894 gründeten die in Barmen lebenden Juden offiziell eine eigene Gemeinde, legten einen eigenen Friedhof an der Hugostraße an und weihten im Januar 1897 ihre eigene Synagoge an der Scheurenstraße (heute: Zur Scheuren) ein.

Die Kultusangestellten im Wuppertal waren:

1857-1861 Dr. Hermann Engelbert (1830-1900), Prediger und Lehrer
1861-1866 Dr. Leopold Levi Kleeberg (1832-1906), Rabbiner
1866-1907 Dr. Zacharias Auerbach (1844-1927), Rabbiner
1876-1912 Magnus L. Wetzstein (1849-1916), Kantor und Lehrer
1892-1896 Baruch Weingarten (1865-1922) Leiter der jüdisch-orthodoxen Privatschule
1894-1899 Dr. Carl Koch (1865-1920), Rabbiner der Gemeinde Barmen
1898-1928 Hermann Zivi (1867-1943), Kantor, seit 1912 Oberkantor der Gemeinde Elberfeld
1899-1929 Dr. Viktor Grabowski (1863-1931), Rabbiner der Gemeinde Barmen
1907-1935 Dr. Joseph Norden (1870-1943), Rabbiner der Gemeinde Elberfeld
1914-1937 Gustav Sussmann (1892-1937), Kantor und Religionslehrer der Gemeinde Elberfeld
1921-1941 Friedrich Salomon Jonas (1890-1941), Lehrer der Gemeinde Barmen
1926 Erich Jacobs (1906-1973), Vorbeter der orthodoxen Gemeinde Adass Jeschurun
1928-1938 Dr. Alfred Philipp (1904-1970), Zweiter Rabbiner der Gemeinde Elberfeld
1930-1936 Moses Findling (1905-1973), Rabbiner der orthodoxen Gemeinde „Adass Israel“
1931-1938 Dr. Lothar Lubasch (1896-1976), Rabbiner der Gemeinde Barmen
1938-1939 Dr. Fritz Salomonski (1899-1980, später Fred Solomon), Rabbiner der Gemeinden Barmen und Elberfeld
1939 Jakob Okunski (1879-1952), Leiter der Jüdischen Schule Stephanstraße

 

Laut dem „Führer durch die jüdische Gemeindeverwaltung und Wohlfahrtspflege in Deutschland“Führer durch die jüdische Gemeindeverwaltung und Wohlfahrtspflege in Deutschland 1932-33, hg. im Auftrag der Zentralwohlfahrtsstelle der Deutschen Juden, bearbeitet von Bella Schlesinger, S. 240-242. war der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Barmen Rechtsanwalt Kurt Orgler, der Vorsitzende in Elberfeld Rechtsanwalt Gustav Brück. Die Gemeindearbeit wurde überwiegend ehrenamtlich in Arbeitsausschüssen getan, darunter solche für Kultus und Unterricht, Friedhofsangelegenheiten, Finanzen, Bau, Synagoge und Betsaal, Arbeit, Soziales und Geselligkeit. Im Büro der Gemeinde konnten feste Synagogenplätze gemietet werden. Der Jüdische Wohlfahrtsverband Wuppertal mit Berufsberatung, Arbeitsnachweis, Lehrstellenvermittlung, Wohlfahrts- und Jugendamt, Zusammenfassung und Ausbau der jüdischen Wohlfahrtsvereine in Wuppertal, Wirtschaftsfürsorge, Jugendfürsorge, Gesundheitsfürsorge war 1917 gegründet worden.

Betstube in der Luisenstraße
Betstube in der Luisenstraße Bildnachweis: Archiv Begegnungsstätte Alte Synagoge

Schon im 19. Jahrhundert war eine Vielzahl von Vereinen mit fest umrissenen Arbeitsfeldern und Zweckbestimmungen gegründet worden, so z.B.

  • der Israelitische Wohltätigkeitsverein (in Elberfeld gegr. 1857),
  • der Israelitische Frauenverein (in Elberfeld gegr. 1858, in Barmen 1875),Ulrike Schrader: Tora und Textilien. Zur Geschichte der Juden im Wuppertal, Wuppertal 2007, S. 50.
  • die „Chewra Kaddischa“, die Beerdigungsbruderschaft (in Barmen gegr. 1880, in Elberfeld 1883),
  • die Ortsgruppe des jüdischen Frauenbundes,
  • der „Mendelssohn-Verein zur Förderung der Kenntnis der jüdischen Geschichte und Literatur“ (in Elberfeld gegr. 1890),
  • der „Literarische Verein Lesegesellschaft zur Verbreitung der Kenntnis der modernen Profanliteratur“ (in Elberfeld gegr. 1894),
  • der Synagogenchorverein (in Elberfeld gegr. 1898),
  • der Verein für jüdische Krankenpflegerinnen Wuppertal (in Barmen gegr. 1910, in Elberfeld 1913).
Einweihung des jüdischen Altersheims an der Königstraße 73, 1913
Einweihung des jüdischen Altersheims an der Königstraße 73, 1913 Bildnachweis: Archiv Begegnungsstätte Alte Synagoge

Außerdem gab es eine kleine orthodoxe Gemeinde „Adass Israel“, die ihren Betsaal in der Luisenstraße 60a eingerichtet hatte, und später auch eine „ostjüdische“ Gemeinde, die einen Betsaal direkt neben der orthodoxen einrichtete und einen weiteren in der Hochstraße 71b unterhieltEbd. S. 51f, Elberfelder Adressbuch von 1925.. In der Gesundheitstraße 104 war unter der Leitung von Bertha Findling das Büro des orthodoxen „Bikur-Cholim“-Vereins für Krankenpflege.

Eintrag des „Vereins jüdischer Betsaal“ Hochstraße 71b, Adressbuch Elberfeld1925
Eintrag des „Vereins jüdischer Betsaal“ Hochstraße 71b, Adressbuch Elberfeld1925 Bildnachweis: Archiv Begegnungsstätte Alte Synagoge

Es gab in Elberfeld im Haus Genügsamkeitstraße 7 neben der Synagoge einen Mädchenklub, einen Kindergarten und einen Kinderhort, in der Königstraße 73 (heute Friedrich-Ebert-Straße) ein Altenheim, darüber hinaus ein Schwesternheim und in Barmen eine Gemeindebibliothek. Die Juden in Elberfeld und Barmen gründeten eine „Bergische Loge des Unabhängigen Ordens Bne Briss“, eine Ortsgruppe des „Centralvereins der Juden in Deutschland“,Benigna Schönhagen: Selbstbewusst und wehrhaft. Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens 1893.1938, in: Ulrike Schrader/ Christine Hartung (Hg.): Tora und Textilien. Jüdisches Leben im Wuppertal. Die Begegnungsstätte Alte Synagoge und ihre Ausstellung, Düsseldorf 2021, S. 114-129. unter dem Namen „Ivria“ eine zionistische Ortsgruppe und eine Ortsgruppe des „Reichsbunds jüdischer Frontsoldaten“.

Eine Besonderheit in Wuppertal war die Tatsache, dass hier seit 1926 unter der Leitung von Clara Samuel die für das gesamte Reichsgebiet zuständige Zentralstelle für „jüdische Adoptionsvermittlung und Pflegestellenwesen“ arbeitete, die ihr Büro in der Genügsamkeitstraße 7 hatte.Führer durch die jüdische Gemeindeverwaltung und Wohlfahrtspflege in Deutschland 1932-33, hg. im Auftrag der Zentralwohlfahrtsstelle der Deutschen Juden, bearbeitet von Bella Schlesinger, S. 552.

Zur jüdischen Gemeinde Elberfeld gehörten die Jüdinnen und Juden in Neviges, Heiligenhaus, Langenberg, Mettmann und Wülfrath.

Die Berufsstruktur der jüdischen Bevölkerung, die überwiegend vom Handel lebte – worunter der Klein- und Hausierhandel ebenso zu verstehen ist wie die Führung eines Großhandels oder der Besitz eines Kaufhauses – hat sich im Laufe des 19. Jahrhunderts nur geringfügig verändert:

Die Berufsstruktur der Juden im Wuppertal im Jahr 1912Monika Scherkenbach: Juden in Wuppertal. Untersuchungen zur Geschichte der Juden im Bergisch-Märkischen Raum, Staatsexamensarbeit Gesamthochschule Wuppertal 1983, S. 101. in %:

  Barmen Elberfeld
Industrie und Handwerk 31,8 28,0
Handel und Verkehr 56,5 55,4
Häusliche Berufe 0,6
Öffentliche Dienste und freie Berufe 4,3 5,5
Berufslose und Selbständige 7,1 9,6

 

Die demografische Verteilung der Religionszugehörigkeiten:

Ergebnisse der Volkszählung in Wuppertal vom 16. Juni 1925:Adressbuch Wuppertal 1933, S. 14.

  Gesamtzahl der EW Barmen Elberfeld Vohwinkel Cronenberg Ronsdorf Beyenburg
Protestanten 289.331 141.068 112.077 11.152 11.626 11.404 2.004
Katholiken 83.266 30.802 41.854 5.311 1.800 2.110 1.289
Andere Christen 10.950 5.752 4.093 489 250 347 19
Israeliten 3.102 721 2.335 32 2 12 0
Sonstige 18.866 9.610 7.219 673 260 1.073 32
Gesamt 405.515 187953 167.577 17.657 13.938 14.946 3.444

 

Ergebnisse der Volkszählung in Wuppertal vom 16. Juni 1933:Adressbuch Wuppertal 1936, S. 10.

  Zahl in %
Protestanten 276.442 67,66
Andere Christen 9.903 2,42
Katholiken 83.099 20,34
Israeliten 2.471 0,60
Angehörige nichtchristlicher Konfession 922 0,23
„Gemeinschaftslose“ 35.687 8,73
Ohne Angebe 78 0,02
Gesamt 408.602 100,00

 

 

Quellen