Helmut Nagel
Helmut Nagel wurde am 10. Mai 1923 als Sohn des Kaufmann Sally Nagel und seiner nichtjüdischen Ehefrau Agnes, geb. Bahr in Elberfeld geboren. Aus einer Beziehung seiner Mutter vor der Ehe mit Sally Nagel hatte Agnes Nagel einen Sohn, der also Helmut Nagels älterer Habbruder war. Die Familie lebte in der Wülfingstraße 29. Am 30. Juni 1932 starb Helmut Nagels Vater Sally und wurde auf dem jüdischen Friedhof beigesetzt (Feld I/ IV). Dort sind auch schon die Großeltern Moritz und Babette beerdigt (Feld C VI).
Helmut Nagel war so genannter „Geltungsjude“, da er zwar eine nichtjüdische Mutter hatte, er aber Mitglied der jüdischen Gemeinde war. Diese unklare Zugehörigkeit wurde für ihn spätestens dann zum Problem, als im September 1941 die Kennzeichnungspflicht für Juden mit dem „Judenstern“ eingeführt wurde. Aufschlussreich ist das Gesuch, dass er am 21. August an die „Kanzlei des Führers“ in Berlin schrieb, um ihn vom Tragen des Kennzeichens zu befreien:
Ich wende mich, da ich keinen anderen Ausweg mehr weiß, mit der Bitte an Sie, meinen nachstehend aufgeführten Fall zu prüfen und über die Sache zu urteilen.
Ich bin nach den Nürnberger Gesetzen Jude; der Rasse nach aber Mischling. Da nun heute durch die Geschehnisse der Zeit Maßnahmen getroffen werden, die später eventuell eine endgültige Zusammenfassung der Juden nach sich ziehen und ich nicht als Jude denken und fühlen kann, da meine Mutter, die Arierin ist, mich nicht jüdisch erziehen konnte, schreibe ich dieses Gesuch.
Ich wurde am 10. Mai 1923 hier als Sohn des Selmar, gen. Sally Nagel, der Volljude war und im Juni 1932 starb, und der Agnes Nagel, geb. Bahr arischer Abstammung geboren. Da sich meine Eltern in der Synagoge hatten trauen lassen, gehörte ich der jüdischen Religionsgemeinschaft an. Ich besuchte von 1929 bis 1933 die evangelische Volksschule und anschließend bis 1936 die Oberrealschule, von der ich aus der Untertertia wegen finanzieller Schwierigkeiten abging. Als mein Vater 1932 starb, hinterließ er uns ein Haus, auf dem 10.000 RM Hypotheken lasteten. Im April 1935 betrieben wir in dem Hause eine Heißmangel. Meine Mutter, die das Haus verkaufen wollte, aber nicht konnte, da sich kein Käufer fand, befand sich in den Jahren in schweren wirtschaftlichen Sorgen. Da meine Mutter in Gesetzen und Politik nicht bewandert und ich noch zu klein dafür war und in der Schule vom nationalsozialistischen Unterricht ferngehalten wurde, waren wir uns der im September in Kraft tretenden Gesetze nicht bewusst. Da mir niemand meiner Verwandten einen Rat gab, unternahmen wir nichts in der Sache. Auch in den Religionsstunden, die ich manchmal besuchte, aber deren Sinn nicht erfasste und mich auch nicht interessierten, sagte mir niemand, dass es jetzt an der Zeit sei, etwas für meine Zukunft zu tun. […] Von jüdischer Erziehung kann auch gar keine Rede sein, denn, da mein Vater schon 1932 starb und meine Mutter Arierin ist, war ja niemand da, der mich jüdisch erzog.
1938 trat ich auf Grund der Folgen des Mordes in Paris aus der jüdischen Gemeinde aus, musste aber die bittere Feststellung machen, dass ich dennoch als Jude galt. Ich habe mich dann überall umgehört, aber mir konnte niemand helfen. Heute habe ich eine Stellung, die mir bei Fleiß und guter Führung eine existenzsichere Zukunft sichert, und diese Stellung möchte ich auch gerne behalten. Ich wollte eigentlich bis Kriegsschluss warten, weil ich hoffte, dass dann eine Änderung eintreten wird. Ich muss aber jetzt auf Grund der neuen Verordnung den Judenstern tragen. Das ist für mich das Furchtbarste, was es gibt, da ich mich nie fürs Judentum interessiert habe und die Öffentlichkeit mich jetzt als dazugehörig betrachtet. In Anbetracht meiner bisherigen Lebensweise ist das Tragen dieses Sternes für mich furchtbar.
Ich bitte Sie nun höflich, meine Angaben zu prüfen und versichere Ihnen, dass ich dieses Gesuch alleine aus eigenem Antrieb und in allen Teilen der Wahrheit gemäß gemacht habe. Ich bitte Sie nochmals höflichst, sich der Sache anzunehmen, und auf eine Entscheidung hoffend, zeichne ich Helmut Israel Nagel, Wuppertal-Elberfeld, Adolf-Hitler-Straße 119
Das Gesuch blieb folgenlos und es passierte genau das, was Helmut Nagel befürchtete: Juden und Jüdinnen wurden konzentriert und – was er vermutlich nicht vorhergesehen hat – deportiert.
Noch am 21. April 1942, dem Tag der Deportation nach Izbica, schickte seine Mutter Agnes Nagel ein Telegramm an das Innenministerium:
Als arische Mutter erbitte ich Befreiung von Evakuierung am 21.4. meines 18 jährigen Sohnes Helmut. Vater seit 1932 tot. Vorehelicher Sohn kämpft an der Ostfront.
Auch diese Eingabe nutzte nichts. Helmut Nagel wurde, wie auch seine Altersgenossen und -genossinnen Michael Kesting, Edith Kurek, Irmgard Baum und Jutta Lewin, am 21. April 1942 in das Ghetto Izbica deportiert und entweder dort oder wenig später im Vernichtungslager Sobibór ermordet.
Die Wuppertalerin Annedore Bell, die die jungen Leute noch persönlich kannte und mit ihnen befreundet war, schrieb 1981 an Ulrich Föhse, (12.9.1981):
Die Mutter von Helmut Nagel war Russin und Jüdin. Sie wandte sich damals in ihrer Verzweiflung an den Geistlichen ihres Heimatortes. Dieser Pope versprach ihr, sich nach dem Schicksal der Insassen des „Lagers Izbica“ zu erkundigen. Dann kam ein langer Brief. Frau Nagel übersetzte ihn […]. Der Pope schrieb, dass das nahe Dorf bzw. die Bewohner des nahen Dorfes – also wahrscheinlich Izbica – berichtet hätten, dass das gesamte Lager abgebrannt worden sei. Es habe tagelang nach verbranntem Fleisch gerochen; schwarzer Rauch habe tagelang über den Trümmern gestanden. und man habe die Schreie weit gehört.
Die Verfassung der Mütter nach diesem Brief können Sie sich vorstellen. Frau Lewin aber glaubte fest daran, dass ihrer mutigen Tochter eine Flucht gelungen und sie vielleicht barmherzigerweise auf dieser Flucht erschossen worden wäre.
Helmut Nagel wurde 19 Jahre alt.
Quellen
Archiv Begegnungsstätte Alte Synagoge Wuppertal: Deportationsliste Izbica, Kopien der Gestapo-Akten