Antonie Giese, geb. Simon

  • Geburtsdatum: 26.07.1871
  • Geburtsort: Elberfeld
  • Wohnort:

    Krugmannsgasse 2

  • Todesdatum: 01.07.1942
  • Todesort: Wuppertal

Antonie Giese wurde als neuntes Kind von Salomon Joseph Simon und seiner Frau Julie, geb. Leeser am 26. Juli 1871 geboren. Der Vater war 1828 in Langenberg geboren worden, und auch Antonies ältere Geschwister kamen dort zur Welt – bis auf ihren nächstälteren Bruder Hermann, der 1868 bereits in Elberfeld geboren wurde. Vermutlich war die Familie in den 1860er Jahren nach Elberfeld umgezogen, denn das lag im Trend: Die „Landjudengemeinden“ überall schrumpften in dieser Zeit, weil ihre Mitglieder sich bessere Lebensbedingungen in den boomenden Industriestädten versprachen.

Antonie Simon war das Nesthäkchen der Geschwister – sie hatte drei ältere Schwestern und fünf ältere Brüder. Unsicher ist, ob wirklich alle diese Kinder ihre ersten Lebensjahre überlebt haben, denn das war zu dieser Zeit nicht selbstverständlich. Antonies älteste Schwester Helena zum Beispiel starb schon mit knapp zwei Jahren.

Aber Rebecka, die Zweitälteste, war 18 Jahre alt, als Antonie geboren wurde, und ihre Schwester Johanne 17. Man kann sich vorstellen, dass die beiden jungen Frauen sich bei der Sorge um das jüngste Kind abwechselten – ob sie das allerdings gerne taten, können wir nur spekulieren.

Über Antonie Simons schulischen Weg oder über eine Ausbildung gibt es keine Informationen.

Am 3. April 1889 heiratete sie, noch nicht ganz achtzehnjährig, einen 30 Jahre älteren Witwer, den Kaufmann Johann Franz Giese, geboren am 25. Februar 1841 in Hofgeismar. Es scheint, dass Johann Giese keine Kinder mit in die Ehe brachte. Ihre Wohnung hatten die Gieses in direkter Nachbarschaft zur 1865 eingeweihten Elberfelder Synagoge, im zweiten Stock in der Krugmannsgasse 2.

Kinder bekamen Antonie und Franz Giese nicht. Vielleicht litt Antonie schon damals an einer Krankheit, die das unmöglich machte. Offensichtlich brauchte sie später sogar eine Pflegerin, weil sie „Lähmungen an Armen und Beinen“ hatte.

Im Oktober 1917 starb Antonies Mann Franz im Alter von 76 Jahren und wurde auf dem jüdischen Friedhof am Weinberg bestattet. Den Tod zeigte Antonies Bruder Hermann Simon an, der mit seiner Frau Anna und den vier Kindern Werner, Erna, Arthur und Alice in der Neuen Fuhrstraße 29 wohnte.

Die erst 46jährige Witwe wohnte nun mit ihrer Pflegerin Henriette Schwabe zusammen, die sie unterstützte und versorgte. Ganz in der Nähe, in der Klotzbahn 3, lebte Antonie Gieses Bruder Moses Simon mit seiner Frau Minna und den Kindern Gertrud Julie, Erich Walter und Fritz, und in der Karlstraße 3a lebte ihre Schwester Rebecka mit ihrem Mann Moses (Moritz) Liffmann.

In den nächsten Jahren gab es eine ganze Reihe von Beerdigungen: 1921 starb der Schwager Moses, 1922 der Bruder Hermann, 1926 die Schwester Rebecka. Aber es wird auch glückliche Momente im Leben der Familie gegeben haben: Antonies Nichte Erna Simon heiratete Leo Pessel, und 1925 wurde ein Kind geboren: Ernst.

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten begann auch für Antonie Giese eine Zeit großer Sorge und Bedrängnis. Aus nächster Nähe musste sie den Brand der Synagoge in der Nacht zum 10. November 1938 mitansehen und wurde Zeugin, wie in den nächsten Tagen Männer aus den Häusern der Krugmannsgasse über die Grenzmauer zur Synagoge kletterten, um aus dem Keller brauchbare Sachen zu stehlen: zwei Schränke, mehrere Säcke mit Kohlen, Säcke mit Holz und einen Kanonenofen.

Einige mutige Nachbarinnen (Frau Scheibel, Frau Czubayko und Frau Hammers) hatten den Diebstahl ebenfalls beobachtet und brachten ihn zur Anzeige, so dass Ermittlungen aufgenommen werden mussten. Aber erwartungsgemäß geschah den Tätern am Ende nichts – im Gegenteil: die Verdächtigten versuchten, die Zeuginnen mit ihrer Freundschaft zu Antonie Giese unglaubwürdig zu machen. So gab der Anführer der Bande mit dem bezeichnenden Namen Karl Clauer am 12. Dezember 1938 bei seiner Vernehmung zu Protokoll:

Ich kann nur sagen, dass eine diebische Absicht nicht in Frage kommt. Es handelt sich lediglich nur um eine Sicherstellung der Sachen, um sie vor einem Diebstahl zu schützen. Eine persönliche Bereicherung schaltet vollkommen aus. Was die Person der Anzeigenden anbetrifft [gemeint ist hier eine der Nachbarinnen, Frau Scheibel], so kann ich nur sagen, dass sie heute noch nach wie vor mit einer Jüdin, Frau Giese, hier, Krugmannsgasse 2 sympathisiert. So ist es auch mit der den Zeugen Zcubayko und Hammers bestellt. Wenn diese gegen die Partei als solche etwas unternehmen können, so tun sie es mit Vorliebe. Gegen Frau Scheibel und Wilhelm Czubayko geht noch besondere Meldung wegen Verächtlichmachung der Partei an die Kreisleitung.

 

Am Ende geschah den Tätern in der Streitsache „Judenaktion“ nichts.

Im Jahr 1941 – dem Jahr, in dem die Lage für Jüdinnen und Juden zunehmend lebensbedrohlich wurde, starb Antonies Schwägerin Minna, die 81-jährige Frau ihres Bruders Moses. Vermutlich hatten Moses und Minna Simon schon 1939 oder 1940 in die Zwangsunterkunft in das frühere jüdische Altersheim in die „Straße der SA“ 73 (heute Friedrich-Ebert-Straße 73) umziehen müssen. Jetzt lebte Moses dort als Witwer, aber geplant war, dass seine Schwester Antonie im Laufe des Jahres 1942 zu ihm ziehen sollte.

Das aber traute diese sich nicht mehr zu. Sie war bereits über 70 Jahre alt und schwer behindert, kam allein überhaupt nicht mehr zurecht. Deshalb plante sie einen anderen Weg: Am Mittwoch, den 1. Juli 1942, wartete sie ab, bis ihre Betreuerin Henriette Schwabe sich in die Stadt aufmachte, um Besorgungen zu erledigen. Als sie allein war, schrieb sie ihrem Bruder eine letzte Nachricht. Dann kroch sie zum Fenster und machte sich aus der Gardinenschnur eine Schlinge, die sie sich um den Hals legte. Dann ließ sie sich fallen.

Als Frau Schwabe gegen halb drei wieder nach Hause zurückkehrte, fand sie Antonie Giese tot vor und verständigte sofort den jüdischen Arzt Dr. Eugen Rappoport, der unverzüglich in Begleitung der jüdischen Krankenschwester Anna Kupperschlag kam, die Todesbescheinigung ausstellte und die Polizei informierte. In deren Bericht ist nachzulesen: „Der Hauptwachtmeister der Schutzpolizei Wollmert vom 7. Polizeirevier, der vor mir am Tatort war, hat die Erhängte vom Fenster abgenommen. Sie hat nach seinen, der Pflegerin und der Jüdin [gemeint ist Anna Kupperschlag] Angaben mit dem Gesicht zum Zimmer, fast sitzend, das Gesäß etwa 20 cm vom Fußboden, am Fenster gehangen. Die Selbstmörderin hat einen Zettel folgenden Inhalts hinterlassen: Lieber Bruder Es tut mir sehr leid dir diesen Schmerz zu bereiten aber ich kann nicht im Heim gehen weil ich zu hilflos bin und die andere Umgebung gefällt mir nicht letzter Gruß Toni.“

 

Ob der 83-jährige Moses noch in der Lage war, das Begräbnis seiner Schwester allein zu organisieren, ist unsicher. Sie fand jedenfalls ihre letzte Ruhe neben ihrem 25 Jahre zuvor verstorbenen Mann auf dem jüdischen Friedhof am Weinberg. Warum der Name auf dem Grabstein falsch geschrieben ist („Giesse“), bleibt eine offene Frage.

Vier Monate später wurde zunächst Tonis Nichte Trude am 26. Oktober 1941 in das Getto von „Litzmannstadt“ nach Łódź deportiert und am 8. Mai 1942 in der Vernichtungsstätte Chełmno (Kulmhof) ermordet. Am 20. Juli wurde auch Tonis Bruder Moses deportiert, und zwar in das Ghetto Theresienstadt bei Prag. Dort starb er schon drei Monate später, am 23. Oktober 1942 im Alter von 83 Jahren.

Antonie Gieses Schwägerin Anna, die Witwe ihres Bruders Hermann, und deren Tochter, die Opernsängerin Alice Simon, waren schon 1933 in die Niederlande ausgewandert. Nach der Besetzung durch die Deutsche Wehrmacht im Jahr 1940 wurden die beiden Frauen verhaftet und über das Konzentrationslager Westerbork im Juli 1943 nach Sobibór deportiert und vermutlich sofort ermordet.

Anna Simons Sohn Arthur, der Schreiner und Kürschner war, emigrierte 1937/38 ebenfalls in die Niederlande. 1942 wurde er verhaftet und zunächst nach Westerbork verschleppt. Am 30.1.1945, vermutlich auf einem Todesmarsch, ist er in Landshut umgekommen. Seine Frau Irene und die kleine Tochter Herta Eleonore verschleppte man nach Theresienstadt von dort nach Auschwitz, wo sie im Oktober 1944 ermordet wurden.

Die einzigen Überlebenden der Familie Simon waren Antonie Gieses Neffe Werner Simon (*1905) und die Nichte Erna (*1900), verheiratete Pessel, die sich mit ihrem Mann Leo (*1893) und dem Kind Ernst (1925-1944) in die USA flüchten konnten.

Bildnachweis


  • Begegnungsstätte Alte Synagoge Wuppertal, Foto: Matthias Wellmer

Quellen


Gestapoakte Giese und Clauer # 63009, Landesarchiv Düsseldorf; Todesbescheinigung Johann Franz Giese # 2523, Stadtarchiv Wuppertal; Korrespondenz Georg Kö, Ostfriesisches Landesmuseum Emden; Gedenkbuch Łódź, Düsseldorf; Adressbücher Wuppertal, 1925, 1938, 1940/41; Föhse Sammlung # 244 Erna Pessel und 283 Werner Simon; Fotobestand BAS