Manfred Siegel

Manfred Siegel

  • Geburtsdatum: 22.04.1893
  • Geburtsort: Barmen
  • Beruf: Kaufmann, Fabrikant
  • Wohnort:

    Allee 24, Adolf-Hitler-Straße 310 und 312 (vormals Allee, heute Friedrich-Engels-Allee, zwischen Plüschow- und Heinz-Kluncker-Straße), Wilbergstraße 4

  • Todesdatum: 22.01.1943
  • Todesort: Konzentrationslager Sachsenhausen

Manfred Siegel wurde am 22. April 1893 als Sohn des jüdischen Kaufmanns Isidor Siegel (1863 in Walldorf/ Sachsen-1929 in Barmen) und dessen Ehefrau Jenny, geb. Rosendahl (1872-1916) in Barmen geboren. Isidor Siegel wird als Inhaber eines Agentur- und Kommissionsgeschäfts bezeichnet, an anderer Stelle als „wohlhabender Fabrikant“. 1922 war er aus der jüdischen Gemeinde Barmen ausgetreten, wurde aber 1928 wieder Mitglied.

Über die Schulzeit, die Ausbildung und mögliche Teilnahme Manfred Siegels am Weltkrieg ist nur wenig bekannt. Am 22. Dezember 1919 heiratete er die evangelische Elfriede Berghaus, Tochter des Schreiners Wilhelm Berghaus und seiner Frau Anna, geb. Vooes. Gegen Ende des Krieges hatte Manfred Siegel mit einem Teilhaber die Firma „M. Siegel & Vierheller, Textil- und Fabrik-Abfall-Verwertung“ in der Unterdörner Straße 85 gegründet und wohnte mit seiner Familie in der Allee 42 in der ersten Etage.

Am 24. Juni 1920 wurde der Sohn Hans geboren und eineinhalb Jahre später, am 26. Dezember 1921, das zweite Kind, Ernst. Die Tochter Anneliese kam am 12. Januar 1930 zur Welt. Die Kinder wurden evangelisch getauft und erzogen, während Manfred Siegel nach seinem Wiedereintritt Mitglied der jüdischen Gemeinde blieb.

1926 trat Manfred Siegel aus seiner Firma aus und begann einen Handel mit Schuhen und Schuhbedarf. 1929 gab er auch diese Geschäfte wieder auf und nahm den Handel mit Abfällen und Rohprodukten der Textilindustrie wieder auf. Dafür unterhielt er im Hof seines Wohnhauses an der Allee ein Lager.

Die Zuspitzung der antijüdischen Maßnahmen hatte vor allem den wirtschaftlichen Ruin der jüdischen Gewerbetreibenden zum Ziel, zugleich aber auch die Vertreibung der noch nicht ausgewanderten Juden. Immer neue und höhere Sonderabgaben, Anmeldung des Vermögens und Boykott der Geschäfte trieben die noch in Deutschland verbliebenen Juden in akute Existenznot. Wie viele andere jüdische Unternehmer in Wuppertal und im ganzen Reich meldete auch Manfred Siegel seine Firma im Oktober 1938 ab.

Um den Druck auf die nun erwerbslosen und verarmten Juden drastisch zu verschärfen, schlug das bisherige Verwaltungshandeln der Nationalsozialisten mit den Novemberpogromen wenig später in offene Gewalt um. In Wuppertal wurden die beiden Synagogen in Elberfeld und Barmen und die Friedhofskapellen in den frühen Morgenstunden des 10. November 1938 angezündet, viele Geschäftsräume und Privatwohnungen jüdischer Eigentümer gestürmt und geplündert und in den folgenden Tagen mindestens 70 namentlich bekannte jüdische Männer verhaftet, darunter auch Manfred Siegel. Zunächst kamen sie in das Polizeigefängnis Wuppertal und einige Tage später in das Konzentrationslager Dachau. Die Männer hatten dort abzuwarten, bis entweder ihre Frauen die Dokumente beibringen konnten, die den Nationalsozialisten ihre Emigration garantierte, oder bis sie zur Abwicklung ihrer restlichen Geschäfte und Auflösung ihrer Haushalte in die Heimatstädte entlassen wurden. In der Regel kamen die Männer um Weihnachten 1938 oder kurze Zeit später wieder nach Hause.

Die Tochter Annliese Siegel (später Ruth Cunning) erinnerte sich:

In der Nacht zum 9. oder 10. November 1938 wurden wir in der Nacht wach. Man versuchte, die Schlagläden unserer Wohnung hier in unserem Haus einzuschlagen, warf Steine in die Scheiben der Haustüre und zertrümmerte die Scheiben im Nebenhaus, das auch meinen Eltern gehörte.

Meine Eltern und ich liefen, so wie wir waren, in die Mansarde. Dort hatten meine beiden Brüder ihr Schlafzimmer. In diesem Zimmer standen u.a. zwei Betten vor der Schräge. Ich weiß heute noch, dass ich in wahnsinniger Angst hinter das linke Bett gekrochen bin, habe mich dort zwischen [dem] Kopfende des Bettes in ein Eckchen unter die Schräge im Nachthemdchen verkrochen. Es war kalt, aber ich wollte trotz gutem Zureden nicht aus dieser Ecke raus! Mein Vater, der strikt gegen Alkohol war (er war im blauen Kreuz tätig), […] gab mir Eierlikör, wohlbemerkt, ich war acht Jahre jung! – Wie froh waren wir: Es gelang den Verbrechern nicht, in unsere Häuser zu kommen, in der Nacht nicht! Aber am nächsten Morgen sahen wir die Bescherung: Unsere Häuser waren beschmutzt, mit Plakaten mit Judenhetze! […] Nach der sogenannten Kristallnacht […] fuhren meine Eltern und ich nach Barmen. Die Synagoge brannte noch, das war am Morgen, bevor man meinen Vater geholt hat, ziemlich früh war es. – Auf unserem Weg zur Scheurenstraße kamen wir an jüdischen Geschäften vorbei. Die Schaufenster waren zertrümmert, die Auslagen aus dem Schaufenster lagen zum Teil auf der Straße! – Die Menschen standen herum, ich denke, man konnte sich einfach bedienen. – In der Wupper schwammen neue Schuhe und Ballen Stoffe und andere Sachen.

Auf dem Weg zum Friedhof Hugostraße gingen wir noch an vielen Stätten der Verwüstung vorbei. Zu ihnen gehörte auch das Schuhgeschäft von meinem Onkel Emil Rosendahl und Tante Pauline. Auch es war zerstört. Dann sind wir zum Friedhof Hugostraße. Die Leichenhalle war dem Feuer zum Opfer gefallen, fast alle Gräber geschändet, mit wenigen Ausnahmen waren alle Grabsteine umgeworfen worden! – Besonders das hat meinen Vater sehr getroffen, er weinte! Es war furchtbar, ich als Kind konnte es gar nicht begreifen! – Mein Vater sagte, wer sich so versündigt und Gotteshäuser angreift und keine Ehrfurcht vor Toten hat, der versündigt sich, den wird unser Herrgott strafen. – […]

Dann gegen Mittag kamen auch schon Männer. Es waren der Ortsgruppenleiter Schiffer, der, so nannte ich ihn, […] dicke Bergmann, ein Sattler, der neben der Post hier in U[nter]-Barmen wohnte, dort stand er immer in brauner SA Uniform am Tor, und der Polizist Dürr und noch mehrere Männer in brauner Uniform, sie hatten braune Mützen auf mit Lederriemen unterm Kinn. – Sie nahmen meinen Vater in sogenannte Schutzhaft. – Die sogenannte Schutzhaft bedeutete den Abtransport in ein K.Z. Mein Vater kam ins KZ Dachau. Auch die anderen jüdischen Menschen, die zu der Zeit in unseren Häusern wohnten, wurden abgeholt, so nannte man das damals.

Die örtlichen Finanzämter schickten nun Zahlungsbescheide an die jüdischen Haushaltsvorstände, die in den folgenden Monaten die Raten zu überweisen hatten. Aber so lange die Männer in Haft saßen, war es schwierig oder ganz unmöglich, den Forderungen Folge zu leisten. Wieder einmal standen sich die verschiedenen Interessen der Nationalsozialisten – Vertreibung, Entrechtung und Ausplünderung der Juden – gegenseitig im Weg. Letztlich setzten sich die Finanzämter mit der Forderung durch, die Häftlinge aus den Lagern zu entlassen, um die Geldsummen an den Staat überweisen zu können.

Aus dem Konzentrationslager Dachau ist ein einziger Brief von Manfred Siegel erhalten. Die Sorge um die Familie, aber vor allem, wie man finanziell über die Runden kommen kann, ist die beherrschende Frage.

Liebe gute Mutti u. Kinder. Mit Deinen beiden ausführlichen Briefe und mit der Karte der lb. Anneliese habe ich mich sehr gefreut. In der Zwischenzeit hoffe, das Du, lb. Mutti u. lb. Anneliese, wieder gesund seid. Letzteres kann auch von mir berichten. Dir, meine lb. Friedel, wünsche zu dem bevorstehenden Geburtstag ein gesundes weiteres Jahr und möge der lb. Gott Dir weiter die Kraft geben, so für Deine Familie zu sorgen wie bisher. Deine Kinder sowie ich sind stolz auf Dich. Gehe doch bitte nicht so spät zu Bett, darunter leiden die Herzen sehr. Wenn ich keine Post bekomme, weiß ich, daß du viel Arbeit hast. Hast du Geld zum Leben für Dich und die Kinder? Dieses macht mir viel Sorge. […] Empfangt für heute meine herzlichsten Grüße u. und Küsse, Dein Manfred und Euer Vater

Manfred Siegel kehrte am 16. Februar 1939 nach Wuppertal zurück.

[…] eines Tages, ich kam vor die Türe, es war noch bitter kalt, mein Vater stieg aus der Straßenbahn, mit kahlem Kopf, ganz ohne Haare, auf Pantoffeln kam er mit erfrorenen Füßen, mit einem Pappkarton unterm Arm. – Man hatte ihn aus Dachau entlassen, damit er unsere Häuser und das Geschäft, sogenannt arisieren konnte und mußte. Auf meine Fragen, wo er gewesen wäre die 14 Wochen, sagte er mir, darüber dürfe er nicht reden!

Um die „Sühneleistung“ bezahlen zu können, war Manfred Siegel gezwungen, seinen Grund- und Immobilienbesitz zu veräußern. Vom Erlös zahlte er 4.600 Reichsmark direkt an das Finanzamt Barmen. Wovon die Familie in den folgenden Jahren lebte, ist kaum zu ermessen. Vielleicht gab es Ersparnisse, vielleicht reichte der Lohn der beiden Söhne Hans und Ernst, vielleicht auch erhielt die Familie Hilfe von der mütterlichen, nichtjüdischen Verwandtschaft.

Zu dieser Zeit musste Manfred Siegel, wie alle Juden, Zwangsarbeit leisten, u.a. in der Sackfabrik Busche, in Buchenhofen in der Kläranlage, in einer Putzlappenfabrik, bei der Firma Ri-Ri, einer Reißverschlussfabrik, und zuletzt bei Schlaraffia-Matratzen. Hier kam es zu jenem folgenschweren Wortwechsel, der zur Denunziation und Verhaftung Manfred Siegels führte. Im Schutzhaftantrag und in der Festnahmemeldung der Gestapo-Außenstelle Wuppertal heißt es:

Siegel selbst macht einen typisch jüdischen Eindruck. Er versucht durch Wortschwall und Krokodilstränen am K.L. vorbei zu kommen. Er vermag keine Fragen direkt zu beantworten.

Der Jude hat auf seiner Arbeitsstelle einem deutschen Arbeiter gesagt, dass wir den Krieg verlieren würden, weil nicht mehr genug Nachschub an Truppen vorhanden wäre, weil wir im Winter in Russland zu viel Verluste gehabt hätten. Weiter hat er wörtlich gesagt: „Wenn Ihr den Krieg verliert, geht es Euch dreckig.“ Es käme bestimmt auch eine Inflation, das Geld sei heute schon nichts mehr wert.

Nach dem Krieg, 1949, schilderte Manfred Siegels Frau Elfriede den Vorgang als Zeugin in dem Gerichtsverfahren gegen die Denunzianten anders:

Eines Tages, wann, weiß ich nicht mehr genau, kam er nach Hause und erzählte mir, daß ihm etwas Furchtbares passiert wäre. Er habe sich mit einem Arbeiter namens Landgrafe unterhalten, und dieser habe zu ihm gesagt, er glaube, der Krieg wäre verloren. Daraufhin will mein Mann ihm gesagt haben, er hoffe dies nicht, denn sonst könnte es uns noch sehr schlecht gehen. Daraufhin habe sich Landgrafe herumgedreht und in den Betrieb hineingerufen: „Siegel hat gerade gesagt, daß der Krieg für uns verloren sei!“ Der Betriebsobmann habe dies gehört und hätte dies anschließend der Gestapo gemeldet. […]

Etwa 8 – 10 Tage später, am 30.4.1942 mußte mein Mann zur Gestapo kommen. Von dort ist er nicht mehr zurückgekehrt. Ich habe dann etwa ein dreiviertel Jahr später durch das Konzentrationslager Sachsenhausen die Nachricht bekommen, daß mein Mann am 22.1.1943 dort gestorben wäre.

Rückblickend ist schwer zu bestimmen, was sich genau abgespielt hat. Denn schon Manfred Siegel kann seiner Frau, um sie nicht unnötig zu beunruhigen, eine verharmlosende Geschichte erzählt haben, so, als ob es noch einen Ausweg für ihn gäbe, weil er angeblich nichts Staatsfeindliches gesagt habe. Auch Elfriede Siegel mochte im Nachhinein als Zeugin ihrem Mann noch posthum zu Recht verhelfen wollen, indem sie die Beschuldigungen des „Kollegen“ als haltlos darstellt. Ganz bestimmt aber sind die rassistischen Formulierungen im Festnahmebuch von dem einzigen Interesse geleitet, Manfred Siegel ins Konzentrationslager zu bringen, und dazu taugten auch Gerüchte und fadenscheinige Zeugenaussagen.

Am 13. Juli 1942 wurde Manfred Siegel in das Konzentrationslager Buchenwald verlegt. Vom 16. Juli 1942 stammt ein erster erhaltener Brief mit der Bitte um Zusendung von Unterwäsche, Strümpfen und Pullovern, aber vor allem von Schuhen. Er versicherte seiner Familie, sich um ihn keine Sorgen machen zu müssen und riet ihnen, den Alltag, auch mit seinen Vergnügungen wie Kino- und Konzertbesuch, Musizieren usw. aufrecht zu erhalten.

Am 22. August kam Manfred Siegel mit der Häftlingsnummer 46581 in das Konzentrationslager Sachsenhausen. Im Abstand von ungefähr zwei Wochen konnte er nun nach Hause schreiben. Er bat um Kleidung und Lebensmittelpakete und versuchte, die Familie zu beruhigen. Er freute sich über die Versetzung seiner Tochter in die weiterführende Schule und drückte sein Beileid zum Tod der Schwiegermutter aus. Im Brief zu Weihnachten übertrug er die Verantwortung für die Familie förmlich an die Söhne:

[…] Von den Kindern erwarte ich […] größte Liebe zu Eurer braven Mutter. Tragt sie auf den Händen, nehmt ihr jede Arbeit ab, unterstützt sie in jeder Weise, damit sie Euch noch erhalten bleibt und, so Gott will, mir auch. […] jetzt erwarte ich von Euch, daß Ihre beide, Hans und Ernst, die Ernährung, so lange ich nicht nach Hause darf, ebenso für Eure Schwester zu übernehmt […]

Der letzte Brief vom 10. Januar 1943 ist voller Hoffnung. Manfred Siegel beteuerte, dass es ihm gut gehe, wenn er bete, und dass er nach Hause käme, wenn der Krieg bald zu Ende sei. Aber nur zwölf Tage später starb Manfred Siegel. Der Totenschein lautet:

Der Arbeiter Manfred Israel Siegel […] ist am 22. Januar 1943 um 6.00 Uhr im Krankenbau des Konzentrationslagers Sachsenhausen gestorben. TODESURSACHE: Ruhr. Oranienburg, den 22. Januar 1943

Er wurde 50 Jahre alt.

Im Februar 1949 wurde ein Ermittlungsverfahren gegen Emil Landgrafe wegen „Verbrechens gegen die Menschlichkeit“ eingeleitet und der Fall vor dem Wuppertaler Landgericht verhandelt. Der Schreiner Emil Landgrafe, 1911 in Obersprockhövel geboren, war derjenige gewesen, der Manfred Siegel im April 1942 beim Betriebsobmann denunziert hatte. Der Prozess, so kann man den Akten entnehmen, befasste sich ausführlich mit der Frage, ob dem Angeschuldigten die Folgen bewusst waren, die seine Meldung haben konnten. Das Gericht verurteilte Emil Landgrafe in erster Instanz wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit zu einem Jahr Gefängnis.

Bildnachweis


  • Begegnungsstätte Alte Synagoge Wuppertal
  • Begegnungsstätte Alte Synagoge Wuppertal

Quellen


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