Josefine Moll, geb. Wolff
Josefine Moll wurde am 16. Februar 1864 in Straelen am Niederrhein geboren. Sie war die Schwester des angesehenen Heinsberger Viehkaufmanns Arthur Wolff. Über ihn lernte Josefine Abraham Moll aus Dremmen (heute ein Stadtteil von Heinsberg) kennen, den sie noch vor dem Jahr 1900 heiratete. In Dremmen, wo sie mit ihrem Mann schräg gegenüber vom Haus des Bürgermeisters wohnte, wurde Josefine bald sehr beliebt und „Mool Fing“ genannt: die feine Moll. Sie war dafür bekannt, in der Woche vor Ostern, der Karwoche, den christlichen Kindern Matzebrot zu schenken und ärmeren Familien mit Festtagskleidung zu helfen, wenn deren Kinder ihre Erstkommunion hatten. Die Jüdin Josefine Moll führte zwar einen koscheren Haushalt, war aber liberal eingestellt undwollte die trennenden Grenzen zwischen den Religionen überwinden. Sie war der Ansicht, dass alle miteinander in Frieden leben können.
Josefine und ihr Mann Abraham bekamen drei Kinder: Der Älteste Hermann fiel als Soldat im Ersten Weltkrieg. Der zweite Sohn, Leopold, wanderte 1939 nach Los Angeles in Kalifornien aus. Ihre Tochter Henriette, 1893 geboren, heiratete 1919 den Elberfelder Textilhändler Alex Berger und zog zu ihm ins Wuppertal. Als Josefines Mann Abraham 1927 starb, kam sie aus Dremmen ebenfalls hierher. Sie lebte bei ihrer Tochter, ihrem Schwiegersohn und den beiden kleinen Töchtern Margot und Ruth, in der Königstraße 33 (heute Friedrich-Ebert-Straße) und später in der Erholungstraße 15, half im Haushalt und bei der Erziehung der Kinder.
Nicht weit von der Familie Berger, in der Südstraße 61 wohnte auch Alex Bergers Bruder Gustav mit seiner Frau Anna, geb. Prager, den beiden Kindern Stefan (*1923) und Margret (*1917) und der Oma Jette Prager. Vermutlich haben sich die Familien öfter besucht, denn die Kinder waren ja in ähnlichem Alter, wie auch die beiden Großmütter.
Zusätzlich zu den Schikanen und Diskriminierungen durch die Nationalsozialisten, denen die Juden ausgesetzt waren, musste Josefine 1938 den Tod ihrer Tochter verkraften. Henriette erkrankte schwer und hätte dringend operiert werden müssen, doch kein Krankenhaus wollte die Jüdin mehr behandeln. Als sie vom Krankenhaus Marienheim dann schließlich doch aufgenommen wurde, war es zu spät. Sie verstarb am 18. April 1938 mit nur 45 Jahren. Ihr grab befindet sich auf dem jüdischen Friedhof am Weinberg in Wuppertal-Elberfeld.
Die Großmutter Josefine übernahm nun, mittlerweile selbst 74 Jahre alt, sehr viel Verantwortung für die mutterlosen Kinder und ihren Vater und stützte sich dabei auf die treue katholische Haushaltshilfe Maria (genannt Ria) Kann. Vermutlich im Winter 1938/39 zog sie in das Altersheim der jüdischen Gemeinde in der damals von den Nationalsozialisten so benannten Straße der SA 73 (heute Friedrich-Ebert-Straße) um.
Die Lage wurde zusätzlich erschwert durch immer neue Verordnungen, die sich gegen die Juden richteten. So wurde im August 1938 ein Gesetz erlassen, nach dem alle jüdischen Männer zusätzlich „Israel“, alle jüdischen Frauen „Sara“ heißen mussten. Josefine und ihre Enkelinnen Margot und Ruth mussten daher ihre Juden-Kennkarten mit diesem Zwangsnamen unterschreiben, und im Adressbuch von 1940/41 taucht der Name Alex Berger gemeinsam mit dem Zusatz „Israel“ auf.
Josefine Moll muss eine sehr liebe und selbstlose Frau gewesen sein. Das geht jedenfalls aus den Erzählungen ihrer Enkelin Ruth hervor und aus zwei Briefen, die sie am 12. Februar 1939 und am 2. März 1939 an den Bürgermeister von Dremmen schrieb. Sie bat mit diesen Briefen um Hilfe beim Verkauf eines Stückes Land, das sie noch in Dremmen besaß. Den Erlös wollte sie ihrem Schwiegersohn geben, der bereits in großen finanziellen Schwierigkeiten war und die Flucht für die beiden Töchter vorbereiten und bezahlen musste. Josefine Moll schrieb am 12. Februar 1939 an den Bürgermeister Viktor Noethlich:
Sehr geehrter Herr Bürgermeister!
Da ich so lange nichts mehr von Ihnen hörte, möchte ich Sie heute bitten, mir doch noch mal einige Worte zukommen zu lassen. Hoffentlich sind Sie und Ihre Angehörigen alle gesund, was ja bei dem jetzigen nasskalten Wetter die Hauptsache ist. Von hier, das heißt von den Meinigen und mir selbst kann ich auch so ziemlich Befriedigendes in dieser Hinsicht melden; nur mein Schwiegersohn ist hochrangig nervös; die Sorgen und schlaflosen Nächte, dazu die absolute Existenzunmöglichkeit haben den armen Menschen ganz zermürbt.
Können Sie, sehr verehrter Herr Bürgermeister, es denn nicht möglich machen, mein Stückchen Land zu verkaufen? Nehmen Sie es doch selbst in Pfand von mir und geben Sie mir dafür, was Sie für richtig halten? – Glauben Sie mir, die äußerste Notlage, nicht für mich persönlich, sondern für meine armen Enkelkinder und den Vater, zwingt mich zu dieser dringenden Bitte! Es ist ja soweit kein Risiko für Sie, und Sie können es ja dem jetzigen Mieter weiter überlassen. Sie selbst wollen nach Ihrem besten Ermessen darüber verfügen. Ich bin mit jeder Entscheidung, die Sie treffen, bedingungslos einverstanden!
Mein Sohn Leopold ist mit seiner Familie seit dem 12. Januar nach Übersee abgereist und wird wohl inzwischen an seinem Reiseziel, Los Angeles, Californien, Amerika, eingetroffen sein. Ich bekam gestern Nachricht von der Bermuda-Insel, dem ersten Landungsplatz des von ihnen benutzten Schiffes! Ich habe meine Lieben bei ihrer Ausreise am 9. Januar zum letzten Male in diesem Leben gesehen! – Gott möge sie beschützen!
Ich selbst lebe hier im Altersheim und könnte zufrieden sein, wenn die Sorge um meinen Schwiegersohn und die armen mutterlosen Kinder nicht wäre! Erfüllen Sie doch, bitte, bitte, meinen Wunsch, verehrter Herr Bürgermeister. Sie sind doch der treueste Freund und Berater, der mir geblieben. Das Geld habe ich für meinen Schwiegersohn dringend nötig, es ist eine direkte Lebensfrage, die kleine Summe für die Befriedigung seiner Gläubiger zu beschaffen. Im Voraus danke ich Ihnen von Herzen. Sie wissen nicht, oder können nicht ermessen, welch großen Dienst und Freundschaftsbeweis Sie uns und mir mit der Überweisung des Geldes geben! Mit den allerherzlichsten Grüßen und aufrichtigstem Dank verbleibe ich Ihre treue alte Nachbarin Josefine Moll.
Den zweiten Brief schrieb Josefine Moll am 2. März 1939:
Sehr verehrter Herr Bürgermeister!
Sie haben sehr Recht, wenn Sie annehmen, dass Ihr sonst mir so lieber Brief mir eine große Enttäuschung bereitete, aber an gegebenen Tatsachen ist leider nichts zu ändern. Dass der Verkauf einer so kleinen Ackerparzelle so große Schwierigkeiten machen würde, hatte ich nicht vorausgesetzt, doch ist nichts anderes zu machen, als alle Anordnungen so weit wie möglich zu erfüllen. Anbei erhalten Sie nun das Familienstammbuch der Familie Berger, enthaltend alle gewünschten Daten, nur möchte ich, sehr verehrter Herr Bürgermeister bitten, mir das Stammbuch baldmöglichst zurückzusenden, da mein Schwiegersohn es auch noch oft benötigt.
Leopolds Vollmacht zum Verkauf kann ich nicht so rasch beschaffen, da er am 9. Januar nach Los Angeles in Californien ausgewandert ist und ich täglich auf Nachricht von ihm warte. Das Geld von der Ackerparzelle benötige ich so dringend, da mein Schwiegersohn sich, wie Sie wissen, in größeren Schwierigkeiten befindet. Die Kinder sollen auch ins Ausland gebracht werden, und wir haben kein Geld, um die nötigen Kosten aufbringen zu können. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, wie es um uns steht. Sie wissen, dass ich keine unnötigen oder überflüssigen Worte mache!
Nun möchte ich Ihnen noch sagen, dass ich die noch in meinem Besitz befindlichen Zinn-, Kupfer- und Messingsachen verkaufen möchte. Sollten Sie diese Sachen teilweise kaufen wollen (ich sähe sie gerne in Ihrem Besitz), so müssten Sie oder Ihre liebe Lisbeth mal die kleine Reise nach hier machen. Ende nächster Woche zieht Berger mit den Kindern und der treuen Marie um in eine kleine Dreizimmer-Mansarden-Wohnung. Alles eben entbehrliche Möbel wird verkauft, und was Berger dann anfängt, weiß Gott allein!
Verbrennen Sie diesen Brief, denn es soll und braucht keiner zu wissen, in welch verzweiflungsvoller Lage wir uns befinden. Mir persönlich geht es soweit gut; ich bin für zwei Jahre gesichert durch Leopolds Fürsorge, aber die Sorge und Angst um meinen Schwiegersohn raubt mir Ruhe und Schlaf! Doch trotz allem darf und kann ich mein Gottvertrauen nicht verlieren, dieser Glaube und dieses Vertrauen auf eine endliche Hilfe von oben und auf ein endliches Ende unserer unaussprechlichen Leiden muss uns aufrechterhalten. Es bedeutet für mich jedesmal ein tatsächliches Glücksgefühl, von Ihnen einen Brief zu erhalten, beweist es mir doch, dass ich nicht ganz vergessen bin und dass noch treue, hilfsbereite Menschen meiner und unserer gedenken. – Möge Gott Ihnen Ihr selbstloses Wirken vergelten!
Senden Sie mir bitte ein Vollmachtzirkular, damit ich Ihnen dasselbe ausgefüllt wieder zurücksenden kann. Ihre Provision wollen Sie geflissentlich selbst feststellen, das heißt vor allem Ihre Geldausgaben für Portos, Reisen nach Randerath und dergleichen. Ich werde froh sein, wenn die Angelegenheit erledigt ist und erkläre mich jetzt schon mit dem, was Sie erreichen, zufrieden… Auf Wiedersehen? Ihre alte Nachbarin Frau Josefine Moll.
Josefine Moll musste sich im Juni 1939 von ihren beiden Enkelinnen trennen, die mit einem Kindertransport nach England fuhren und so wenigstens in Sicherheit waren.
Als im Oktober 1941 die ersten Juden aus Wuppertal nach Lodz deportiert wurden, musste sich Josefine auch von ihrem Schwiegersohn verabschieden. Alex Berger wurde in das Ghetto Litzmannstadt deportiert (Łódź) und im September 1942 in der Vernichtungsstätte Chełmno ermordet. Aber das werden weder die Großmutter noch die beiden Töchter erfahren haben.
Für diese wurde es nun immer schwieriger, sich miteinander zu verständigen. Ab und zu schrieb die Großmutter Rote-Kreuz-Briefe nach England zu ihren Enkelinnen, zum Beispiel am 1. Mai 1942 an Ruth:
Absender: Josefine Sara Moll, Wuppertal Elberfeld, Straße der SA 73
Empfänger: Ruth Berger, Oxford, New Inn Hallstreet 29, England
Margot Rotkreuzbrief erhalten, Vatis Geldbestätigungen bekommen. Bist Du nicht im Kinderheim? Schreibt oft an Onkel Leopold. Bleibt gesund, herzliche Grüße Ria, Oma
Josefine Moll war zwangsweise in das ehemalige Altersheim der jüdischen Gemeinde Wuppertal-Elberfeld in der damaligen Straße der SA 73 (heute Friedrich-Ebert-Straße) eingezogen, wo nach und nach auf engstem Raum bereits über 70 meist ältere Personen zwangsweise eingezogen waren. Unter den Bewohnern trafen sie auch die andere Großmutter Jette Prager an, die ebenfalls dort eingewiesen worden war. Von dort mussten sich die beiden alten Frauen am 20. Juli 1942 mit ihrem Gepäck zum Bahnhof Steinbeck begeben, um mit vielen weiteren Jüdinnen und Juden in das Ghetto Theresienstadt deportiert zu werden. Alle Bewohnerinnen und Bewohner aus dem Altersheim mussten sich ebenfalls auf dem Bahnhof einfinden.
Die Menschen wurden zunächst nach Düsseldorf gefahren, wo sie eine Nacht auf dem Gelände des Schlachthofs verbringen mussten. Am nächsten Morgen fuhr ein Zug mit insgesamt 965 Jüdinnen und Juden, unter ihnen Josefine Moll und Jette Prager, nach Theresienstadt. Dort starb Josefine am 7. Juli 1943, 79 Jahre alt.
Bildnachweis
- Begegnungsstätte Alte Synagoge Wuppertal
Quellen
Gedenkbuch der Bundesrepublik Deutschland; Stadtarchiv Wuppertal: Akten für Wiedergutmachung 603 767; Arolsen Archives (Inhaftierungskarte Theresienstadt); Archiv Begegnungsstätte Alte Synagoge Wuppertal; Jakobs, Hildegard: Im Ghetto Litzmannstadt (Lodz). 1.003 Biografien der am 27. Oktober 1941 aus Düsseldorf Deportierten, in Zusammenarbeit mit Angela Genger, Immo Schatzschneider und Markus Roos, hg. vom Förderkreis der Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf e.V., Essen 2011, S. 79 (Biografie 54)