Hans Günter Max Siegel
Hans Siegel wurde am 20. Februar 1920 als erstes Kind des jüdischen Kaufmanns Manfred Siegel (1893 in Barmen) und dessen evangelischer Ehefrau Elfriede, geb. Berghaus (1897-1956) in Barmen geboren.
Gegen Ende des Krieges hatte Manfred Siegel mit einem Teilhaber die Firma „M. Siegel & Vierheller, Textil- und Fabrik-Abfall-Verwertung“ in der Unterdörner Straße 85 gegründet und wohnte mit seiner Familie in der Allee 24 in der ersten Etage.
Am 26. Dezember 1921 wurde Hans‘ jüngerer Bruder Ernst geboren. Am 12. Januar 1930 kam dann noch die Nachzüglerin Anneliese als kleine Schwester hinzu. Die Kinder wurden evangelisch getauft und erzogen, während Manfred Siegel nach seinem Wiedereintritt Mitglied der jüdischen Gemeinde blieb.
Die drei Kinder waren noch jung, als die Nationalsozialisten die Macht in Deutschland übernahmen. Anneliese Siegel, später Ruth Cunning, konnte sich trotzdem im Alter noch sehr gut an die Details der Verfolgung erinnern. Zunächst wurde der Vater im Zuge der anti-jüdischen Ausschreitungen im November 1938 verhaftet und bis Ende Februar im Konzentrationslager Dachau inhaftiert. Wirtschaftlich wurde es eng, so dass der Kaufmann Ware und Privateigentum veräußern musste. Sein Ende bereitete ihm die Denunziation eines Arbeitskollegen: er wurde daraufhin 1942 verhaftet, kam nach Buchenwald und zuletzt nach Sachsenhausen, wo er im Januar 1943 umkam. Hans war zu diesem Zeitpunkt 23 Jahre alt.
Hans und sein Bruder Ernst waren offensichtlich Mitglieder einer unangepassten Jugendgruppe. In einem Bericht der Gestapo-Leitstelle Düsseldorf heißt es:
Die deutschblütige Ehefrau Siegel erweckt in ihrer Eingabe den Anschein als ob ihre beiden Söhne Mischlinge I. Grades […] wegen unbefugten Waffenbesitzes in Schutzhaft genommen worden seien. […] Sie stellt die Zusammenkünfte in ihrer Wohnung als harmlose Besuche von Angehörigen der HJ dar, die nur zu Spiel und Gesang ihre Söhne aufgesucht hätten. Tatsächlich haben aber in der Wohnung der Siegel Zusammenkünfte von Angehörigen eines sogenannten „Tambico-Clubs“ von „Edelweißpiraten“ stattgefunden. Die jungen Leute wurden von den Gebrüdern Siegel zu unzähligen Malen in die elterliche Wohnung eingeladen. Hier sangen sie ihre verwegenen Fahrtenlieder und veranstalteten u.a. Pfänderspiele. Diese Pfänderspiele waren aber durchaus nicht harmloser Natur, sondern es war hierbei die Regel, daß bei Einlassung der Pfänder sich ein Junge mit einem Mädel für einige Zeit in einem Schlafzimmer der Wohnung Siegel einschliessen musste. Was in dem Schlafzimmer im einzelnen vorgegangen ist, hat sich durch die Ermittlungen nicht klären lassen. Fest steht aber, daß einmal einer der Teilnehmer einen Stuhl von innen so unter die Türklinke geschoben hatte, daß sich die Tür von außen nicht öffnen ließ. Der Zweck dieser Handlung ist allzu durchsichtig. Die einzelnen Teilnehmer, 11 Jungen und Mädels, begrüssten sich bei ihren Zusammenkünften mit dem Ruf „Tambico-Ahoi“. […]
[Es] steht fest, daß die Mischlinge 1. Grades Siegel unter Duldung ihrer Mutter deutschblütige Jungen und Mädchen an sich gezogen haben, und sie durch ein freies, zügelloses Leben zumindest ungünstig beeinflusst und den Geschlechtstrieb der Jugendlichen in unverantwortlicher Weise in ihnen geweckt haben. Die Mischlinge haben sich nicht der für jüdische Mischlinge I. Grades notwendigen Zurückhaltung unterzogen, sondern deutsche Jugendliche der Erziehung durch die Organisation der NSDAP zu entziehen gesucht.
Der Bericht bietet eine Mischung an Argumenten auf, um gegen die Brüder Hans und Ernst Siegel staatspolizeilich vorzugehen: die Zugehörigkeit zu den „Edelweißpiraten“, das unsittliche Verhalten und die Missachtung der Nürnberger Rassegesetze.
Praktisch alle Jugendlichen, die ihre Freizeit in mehr oder weniger organisierten Jugendgruppen und Cliquen verbrachten und nicht Mitglieder der Hitler-Jugend waren, wurden als unangepasst oder gar oppositionell angesehen und erregten den Argwohn der Behörden. Denn diese Jugendlichen entzogen sich nicht nur dem Einfluss und der Manipulation der nationalsozialistischen Erziehungsorgane, sondern galten als „Verführer“ weiterer junger Menschen aus der „Volksgemeinschaft“.
Dass die Jugendlichen aber nicht nur ihre „Fahrtenlieder“ sangen, sondern obendrein auch noch angeblich unterhaltsame Spiele mit sexuellen Erlebnissen veranstalteten, machte die Familie Siegel zum Hort unsittlichen Verhaltens und rückte sie in die Nähe der ebenfalls zu ahndenden „asozialen“ Gruppen.
Schließlich, und das mag das ausschlaggebende Argument für die drastischen Maßnahmen in der Folge gewesen sein, machten sich die Siegels schuldig, weil sie als teiljüdische Familie die vorgeschriebene „Rassentrennung“ nicht befolgten. Die Nürnberger Rassegesetze vom September 1935 mit dem strikten Verbot außerehelichen sexuellen Umgangs zwischen „Juden“ (und „Mischlingen“) einerseits und „Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes“ andererseits sollten ja dem „Schutze des deutschen Blutes“ dienen. Dieses Gesetz wurde in der Familie Siegel angeblich nicht beachtet, was als schwere Verfehlung galt.
Hans und Ernst Siegel scheinen einer jugendlichen „subkulturellen“ Gruppe angehört zu haben, die vielleicht gar nicht entschieden regimekritisch oder gar -feindlich eingestellt war, aber auf jeden Fall ihre Freizeit selbstbestimmt und altersgemäß verbringen wollte. Die beiden besaßen ein Zelt, Fahrräder und sogar ein Boot und machten Ausflüge in die Umgebung. Ernst Siegel spielte Akkordeon, und vermutlich verfügten die Geschwister über ein Repertoire an Fahrtenliedern. Es ist kein außergewöhnliches Verhalten, wenn Pubertierende und junge Erwachsene befreundete Gruppen bilden und ihre Freizeit miteinander verbringen und dass dazu auch Annäherungen zwischen den Geschlechtern und mehr oder weniger weit gehende sexuelle Experimente gehören, ist eine historische Konstante. Aber gerade dieses „wilde“ und sexualisierte Verhalten im Verbund mit der für die NS-Ideologie extrem bedrohlichen Vorstellung der „Rassenmischung“ stand der rigiden Kontrolle der Nationalsozialisten entgegen und war Anlass zu Verdächtigungen und Eingriffen.
Beide Brüder wurden verhaftet und am Ende in das Konzentrationslager Auschwitz inhaftiert, Hans` Bruder Ernst im Mai 1943, Hans selbst in Juli. Von dort schreiben sie, wann immer das möglich war, Briefe an ihre Mutter und Schwester. Erhalten ist heute eine einzigartig große Sammlung von nahezu 100 Briefen, Postkarten und anderen Dokumenten aus den Lagern Auschwitz und Mittelbau-Dora.
Hans und Ernst Siegel konnten am Ende nur noch wenige Postkarten schreiben. Die letzten Lebenszeichen der beiden stammen vom Sonntag, den 18. März 1945:
Meine liebe Mutter und Anneliese, ich wünsche Euch ein recht gutes Osterfest und hoffe, dass Ihr alle, meine liebe Mutter und Anneliese, noch gesund seid und auch annehme, dass es Euch sonst auch soweit gut geht. Mir selbst geht es gesundheitlich soweit gut, was ja wohl auch die Hauptsache ist. Ich würde mich sehr freuen, bald eine Nachricht von Euch zu bekommen. Und wenn es geht, sendet mir bitte im nächsten Paket: Feuerstein, Rauchwaren mit Papier, Rasierseife, Strümpfe, vier Fußlappen, Rasierpinsel und Brot sowie Vitamine B u D mit Schuhriemen und Nähzeug, sowie Taschentücher bitte nicht vergessen. Empfangt für heute die allerbesten Grüße u Küsse von an Euch immer denkenden Hans.
Hans Siegel war noch mindestens bis zum 3. April 1945 in Mittelbau-Dora, Kommando Harzungen, Ernst mindestens bis zum 27. März 1945. Aber am 3. und 4. April wurden Nordhausen und einige Außenlager des Konzentrationslagers von alliierten Bomberverbänden angegriffen und schwer getroffen; die Häftlinge hatten keine Schutzräume zur Verfügung. Wieder wurden sie in „Todesmärschen“ evakuiert. Die Spur von Hans Siegel verliert sich. Sehr wahrscheinlich ist er in der Anonymität der Todesmärsche zugrunde gegangen, wurde erschlagen oder erschossen. Sein Tod ist nirgends bezeugt. Er wurde 25 Jahre.
Von den 40.000 Häftlingen, die sich Anfang April noch in den Lagern des KZ-Komplexes Mittelbau-Dora befanden, wurden 36.500 auf die Todesmärsche geschickt. Die Zahl der Überlebenden kann nur auf über 8.000 geschätzt werden.
Bildnachweis
- Begegnungsstätte Alte Synagoge Wuppertal
Quellen
Archiv Begegnungsstätte Alte Synagoge Wuppertal