Ernst Wilhelm Fritz Siegel
Ernst Siegel wurde am 26. Dezember 1921 als zweiter Sohn des jüdischen Kaufmanns Manfred Siegel (1893 in Barmen) und dessen evangelischer Ehefrau Elfriede, geb. Berghaus (1897-1956) in Barmen geboren.
Gegen Ende des Krieges hatte Manfred Siegel mit einem Teilhaber die Firma „M. Siegel & Vierheller, Textil- und Fabrik-Abfall-Verwertung“ in der Unterdörner Straße 85 gegründet und wohnte mit seiner Familie in der Allee 24 in der ersten Etage.
Ernst hatte noch einen älteren Bruder, Hans, und die kleine Schwester Anneliese (geboren 1930). Die Kinder waren evangelisch getauft und erzogen, während Manfred Siegel nach seinem Wiedereintritt Mitglied der jüdischen Gemeinde blieb.
Die drei Kinder waren noch jung, als die Nationalsozialisten die Macht in Deutschland übernahmen. Anneliese Siegel, später Ruth Cunning, konnte sich trotzdem im Alter noch sehr gut an die Details der Verfolgung erinnern. Zunächst wurde der Vater im Zuge der anti-jüdischen Ausschreitungen im November 1938 verhaftet und bis Ende Februar im Konzentrationslager Dachau inhaftiert. Wirtschaftlich wurde es eng, so dass der Kaufmann Ware und Privateigentum veräußern musste. Sein Ende bereitete ihm die Denunziation eines Arbeitskollegen: er wurde daraufhin 1942 verhaftet, kam nach Buchenwald und zuletzt nach Sachsenhausen, wo er im Januar 1943 umkam. Ernst war zu diesem Zeitpunkt 22 Jahre alt.
Ernst und sein Bruder Hans waren offensichtlich Mitglieder einer unangepassten Jugendgruppe. In einem Bericht der Gestapo-Leitstelle Düsseldorf heißt es:
„Die deutschblütige Ehefrau Siegel erweckt in ihrer Eingabe den Anschein als ob ihre beiden Söhne Mischlinge I. Grades […] wegen unbefugten Waffenbesitzes in Schutzhaft genommen worden seien. […] Sie stellt die Zusammenkünfte in ihrer Wohnung als harmlose Besuche von Angehörigen der HJ dar, die nur zu Spiel und Gesang ihre Söhne aufgesucht hätten. Tatsächlich haben aber in der Wohnung der Siegel Zusammenkünfte von Angehörigen eines sogenannten „Tambico-Clubs“ von „Edelweißpiraten“ stattgefunden. Die jungen Leute wurden von den Gebrüdern Siegel zu unzähligen Malen in die elterliche Wohnung eingeladen. Hier sangen sie ihre verwegenen Fahrtenlieder und veranstalteten u.a. Pfänderspiele. Diese Pfänderspiele waren aber durchaus nicht harmloser Natur, sondern es war hierbei die Regel, daß bei Einlassung der Pfänder sich ein Junge mit einem Mädel für einige Zeit in einem Schlafzimmer der Wohnung Siegel einschliessen musste. Was in dem Schlafzimmer im einzelnen vorgegangen ist, hat sich durch die Ermittlungen nicht klären lassen. Fest steht aber, daß einmal einer der Teilnehmer einen Stuhl von innen so unter die Türklinke geschoben hatte, daß sich die Tür von außen nicht öffnen ließ. Der Zweck dieser Handlung ist allzu durchsichtig. Die einzelnen Teilnehmer, 11 Jungen und Mädels, begrüssten sich bei ihren Zusammenkünften mit dem Ruf „Tambico-Ahoi“. […]
[Es] steht fest, daß die Mischlinge 1. Grades Siegel unter Duldung ihrer Mutter deutschblütige Jungen und Mädchen an sich gezogen haben, und sie durch ein freies, zügelloses Leben zumindest ungünstig beeinflusst und den Geschlechtstrieb der Jugendlichen in unverantwortlicher Weise in ihnen geweckt haben. Die Mischlinge haben sich nicht der für jüdische Mischlinge I. Grades notwendigen Zurückhaltung unterzogen, sondern deutsche Jugendliche der Erziehung durch die Organisation der NSDAP zu entziehen gesucht.“
Der Bericht bietet eine Mischung an Argumenten auf, um gegen die Brüder Siegel staatspolizeilich vorzugehen: die Zugehörigkeit zu den „Edelweißpiraten“, das unsittliche Verhalten und die Missachtung der Nürnberger Rassegesetze.
Praktisch alle Jugendlichen, die ihre Freizeit in mehr oder weniger organisierten Jugendgruppen und Cliquen verbrachten und nicht Mitglieder der Hitler-Jugend waren, wurden als unangepasst oder gar oppositionell angesehen und erregten den Argwohn der Behörden. Denn diese Jugendlichen entzogen sich nicht nur dem Einfluss und der Manipulation der nationalsozialistischen Erziehungsorgane, sondern galten als „Verführer“ weiterer junger Menschen aus der „Volksgemeinschaft“.
Dass die Jugendlichen aber nicht nur ihre „Fahrtenlieder“ sangen, sondern obendrein auch noch angeblich unterhaltsame Spiele mit sexuellen Erlebnissen veranstalteten, machte die Familie Siegel zum Hort unsittlichen Verhaltens und rückte sie in die Nähe der ebenfalls zu ahndenden „asozialen“ Gruppen.
Schließlich, und das mag das ausschlaggebende Argument für die drastischen Maßnahmen in der Folge gewesen sein, machten sich die Siegels schuldig, weil sie als teiljüdische Familie die vorgeschriebene „Rassentrennung“ nicht befolgten. Die Nürnberger Rassegesetze vom September 1935 mit dem strikten Verbot außerehelichen sexuellen Umgangs zwischen „Juden“ (und „Mischlingen“) einerseits und „Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes“ andererseits sollten ja dem „Schutze des deutschen Blutes“ dienen. Dieses Gesetz wurde in der Familie Siegel angeblich nicht beachtet, was als schwere Verfehlung galt.
Ernst und Hans Siegel scheinen einer jugendlichen „subkulturellen“ Gruppe angehört zu haben, die vielleicht gar nicht entschieden regimekritisch oder gar -feindlich eingestellt war, aber auf jeden Fall ihre Freizeit selbstbestimmt und altersgemäß verbringen wollte. Die beiden besaßen ein Zelt, Fahrräder und sogar ein Boot und machten Ausflüge in die Umgebung. Ernst Siegel spielte Akkordeon, und vermutlich verfügten die Geschwister über ein Repertoire an Fahrtenliedern. Es ist kein außergewöhnliches Verhalten, wenn Pubertierende und junge Erwachsene befreundete Gruppen bilden und ihre Freizeit miteinander verbringen und dass dazu auch Annäherungen zwischen den Geschlechtern und mehr oder weniger weit gehende sexuelle Experimente gehören, ist eine historische Konstante. Aber gerade dieses „wilde“ und sexualisierte Verhalten im Verbund mit der für die NS-Ideologie extrem bedrohlichen Vorstellung der „Rassenmischung“ stand der rigiden Kontrolle der Nationalsozialisten entgegen und war Anlass zu Verdächtigungen und Eingriffen.
Beide Brüder wurden verhaftet und am Ende in das Konzentrationslager Auschwitz inhaftiert, Ernsts Bruder Hans im Juli, Ernst selbst im Mai 1943. Von dort schreiben sie, wann immer das möglich war, Briefe an ihre Mutter und Schwester. Erhalten ist heute eine einzigartig große Sammlung von nahezu 100 Briefen, Postkarten und anderen Dokumenten aus den Lagern Auschwitz und Mittelbau-Dora.
Hans und Ernst Siegel konnten am Ende nur noch wenige Postkarten schrieben. Die letzten Lebenszeichen der beiden stammen vom Sonntag, den 18. März 1945:
Meine lb. gute Mutter u. Anneliese! Endlich kann ich Euch meine Lb wieder einmal ein paar Zeilen Schreiben und hoffe auch von Euch recht bald etwas zu hören. Gesundheitlich geht es mir Gott sei Dank noch ganz gut was ich auch von Euch hoffe. Habt Ihr unsere letzten Karten vom 25.2. nicht erhalten wir warten noch immer auf Antwort Derselben. Wenn es Euch möglich ist, sendet bitte wider Pakete wie früher wir können Dieselben in jeder Zahl und Menge erhalten. Wenn es Euch möglich ist, sendet mir bitte wieder etwas von dem leckeren Bauernbrot und etwas Rauchwaren u. Strümpfe. Empfangt nun für heute die allerherzlichsten Ostergrüße u Küsse Von Euerem dankbarem immer an Euch denkenden Ernst.
Hans Siegel war noch mindestens bis zum 3. April 1945 in Mittelbau-Dora, Kommando Harzungen, Ernst mindestens bis zum 27. März 1945. Aber am 3. und 4. April wurden Nordhausen und einige Außenlager des Konzentrationslagers von alliierten Bomberverbänden angegriffen und schwer getroffen; die Häftlinge hatten keine Schutzräume zur Verfügung. Wieder wurden sie in „Todesmärschen“ evakuiert.
Ernst Siegel gelangte auf diesem Weg in das Lager Bergen-Belsen, wo er am 15. April 1945 durch Soldaten der Britischen Armee befreit wurde. Dokumentiert ist, dass er am 16. Juni im DP-Lager Belsen lebte, aber eine Karteikarte des ADJC-Location Service Belsen-Camp hält fest: „Died in Belsen after the Liberation on 25.6.45.“ Das Verzeichnis des Lagerfriedhofs der ehemaligen Wehrmachtskaserne bei Bergen-Belsen, die nach dem Krieg als Nothospital diente, führt einen 24-jährigen Ernst Siegel auf, der am 25. Juni 1945 starb und im Massengrabfeld I 1 auf dem Friedhof hinter dem Zelttheater bestattet wurde.
Ernst Siegel war 24 Jahre alt.
Quellen
Archiv Begegnungsstätte Alte Synagoge Wuppertal