Nationalsozialistische Judenverfolgung
Überblick
Gegen Ende der 1920er Jahre wuchsen erneut antijüdische Ressentiments. In bürgerlich-konservativen Kreisen war die Ablehnung der demokratischen „Weimarer Republik“ weit verbreitet, und hinzu kamen eine massive Wirtschaftskrise und die Zunahme radikaler völkisch-nationaler Kräfte. Nachdem das Verbot der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) 1925 aufgehoben war, konnten deren Mitglieder schnell überall wieder Fuß fassen und zur dominierenden Kraft im rechten Parteienspektrum werden. In ihrer Propaganda, auf Kundgebungen und in Versammlungen versprachen die Nationalsozialisten Erlösung von den Problemen und verteufelten stets die Juden als Verursacher der Krise. Als die NSDAP 1930 zur Massen- und Volkspartei aufstieg, entlud sich die aufgeheizte Stimmung auch immer öfter auf der Straße, als Gewalt zwischen Rechten und Linken. Der alltägliche Terror schüchterte viele Bürger ein. Stets präsent blieb ein Antisemitismus, der seit dem Ende des Ersten Weltkriegs (1914-1918) neue Nahrung erhalten hatte: Juden wurde mit der so genannten „Dolchstoßlegende“ für die „Schmach“ der deutschen Kriegsniederlage mitverantwortlich gemacht. Sie galten zudem als Unterstützer jener als „Volksverräter“ und „Novemberverbrecher“ verleumdeten Politiker, die für die Annahme des Friedensvertrags von Versailles votiert hatten.
Antisemitismus hatte von Anfang an den Kern und die stärkste Triebfeder der nationalsozialistischen Ideologie und Politik gebildet. Schon bald nach der Machtübernahme am 30. Januar 1933 äußerte sich die Judenfeindschaft in offener Gewalt. Mit der „Reichstagsbrandverordnung“ vom 28. Februar 1933 und dem „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“, dem so genannten Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933, setzte die neue Regierung die Weimarer Verfassung de facto außer Kraft und schuf einen bis 1945 dauernden Ausnahmezustand. Straßenterror und wilde Verhaftungsaktionen sollten zunächst die politischen Gegner – Sozialdemokraten, Gewerkschafter, Kommunisten – ausschalten.
In den kommenden 12 Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft wurden über 3.000 antijüdische Gesetze, Erlasse, Richtlinien und Verordnungen erlassen, die die „Rechtsgrundlagen“ für das verbrecherische Handeln schufen. Ziel der Nationalsozialisten war es, die Juden systematisch aus der „arischen Volksgemeinschaft“ auszuschließen und ihnen durch wirtschaftlichen und sozialen Druck den Glauben an eine Zukunft in Deutschland zu nehmen. Wer es sich zutraute und leisten konnte, emigrierte aus Deutschland. Lebten 1933 noch 2.471 Juden und Jüdinnen in Wuppertal (0,6% der Gesamtbevölkerung), waren es im Jahr 1939 nur noch 1.093 (0,3%). Andere wurden unter irgendeinem Vorwand willkürlich festgenommen, wegen so genannter „Rassenschande“ oder aus einem anderen vermeintlich strafrechtlichen Grund verhaftet, kamen in Zuchthäuser und Konzentrationslager und wurden am Ende ermordet.
Im Herbst 1941 und im Frühjahr und Sommer 1942 fuhren vier Massentransporte mit insgesamt 801 Wuppertaler Jüdinnen und Juden in die Ghettos von Łódź, Minsk, Izbica und Theresienstadt. Seit November 1988, dem 50. Jahrestag der Novemberpogrome von 1938, erinnert am Bahnhof Steinbeck, auf dem Bahnsteig 3/4, ein Obelisk daran.Meyer-Kahrweg, Ruth: Denkmäler, Brunnen und Plastiken in Wuppertal, Wuppertal 1991, S. 527. Dass auch der Ort „Riga“ als Deportationsziel angegeben ist, beruht auf einem Irrtum: Es gab zwar Wuppertaler Jüdinnen und Juden, die aus anderen Orten nach Riga deportiert wurden, aber nie einen Deportationszug von Wuppertal nach Riga.
Boykott und „Rassentrennung“
Schon am 10. März 1933 wurden in Wuppertal Geschäfte jüdischer Eigentümer in einer ersten Boykottaktion attackiert. Konkurrenzdenken, Missgunst und Antisemitismus waren die Motive des „christlichen Mittelstands“, die Kunden vom Kauf in jüdischen Geschäften abzuhalten. Diese Aktion war allerdings weniger populär als von der Regierung erwartet, so dass sie von der Polizei noch am selben Tag beendet wurde. Anders war das beim offiziellen, von der NSDAP-Führung in ganz Deutschland initiierten Boykott am 1. April 1933, der nicht nur die Geschäfte jüdischer Eigentümer, sondern auch Praxen jüdischer Ärzte, Kanzleien jüdischer Anwälte betraf. Begründet wurde diese Aktion mit der angeblichen „Hetze“ ausländischer Juden gegen die Politik der neuen Regierung. Anders als noch beim Boykott im März 1933 richtete diese Aktion bei den Betroffenen erheblichen wirtschaftlichen Schaden an. Die alltägliche Diskriminierung von Juden wurde nun staatlicherseits organisiert.
Hilde Rohlén-Wohlgemuth, die Tochter von Bernhard und Claire Heimann, den Eigentümern des Elberfelder Kaufhauses Gebr. Kaufmann in der Elberfelder Herzogstraße, erinnerte sich an den Boykott des elterlichen Geschäfts:
Der erste offizielle Boykott-Tag war der 1. April 1933; vor den Haupteingang der Firma Gebr. Kaufmann wurden zwei SA-Männer aufgestellt. Ich kam gerade am Spätnachmittag dieses Tages zu den Osterferien nach einer sehr bedrückenden Eisenbahnfahrt von Berlin nach Elberfeld zurück. Ich kann mich nicht an beschmierte Schaufenster erinnern, nur an diese zwei SA-Männer. Ein Teil der alten Kundschaft der Firma benutzte die Gelegenheit, um ihre Anhänglichkeit zu demonstrieren, und besuchte an diesem Tage schon am frühen Morgen das Kaufhaus erst recht. Manche Kunden gingen mehrere Male ein und aus und kümmerten sich nicht um die SA-Männer. Nach einem Tage hörte die Bewachung auf, wurde aber später um so effektiver wiederholt.Rohlén-Wohlgemuth, Hilde: Gebrüder Kaufmann. Die Geschichte eines jüdischen Kaufhauses 1894-1936 (Sonderdruck aus der Zeitschrift des Bergischen Geschichtsvereins, 90. Band, 1982/83), S. 84-142, hier S. 134f.
Der Barmer Manfred Lichtwitz erinnerte sich später:
Zuerst durfte mein Vater, der war ja damals bei der EHAPE, seine Firma nicht betreten, gleich 1933 und dann bin ich in die Stadt gegangen und hatte eine furchtbare Angst, denn irgendetwas hat man sich ja vorgestellt, dass die, die immer gegen das Judentum so sehr stark gehetzt hatten – man hatte das unterschwellig auch als Kind mitgekriegt –, dass die was tun würden. Und dann kam 1933 die Bewachung der jüdischen Geschäfte, der Boykott. Ich bin […] in Wichlinghausen groß geworden, in der Freiheitstraße, und dann immer sehr schnell in der Wichlinghauser und der Berliner Straße, und da waren sehr, sehr viele jüdische Geschäfte, ich möchte sagen: acht bis zehn rein jüdische Geschäfte; bis zum Alten Markt waren es noch mehr. […] Die waren alle bewacht, da stand die SA davor und hat jedem, der reinging, gesagt: „Das ist ein jüdisches Geschäft!“ und wenn einer sagte: „Ich geh aber trotzdem rein“, dann sind die fotografiert worden oder sind abgehalten worden. […] Gegenüber von uns war ein Lebensmittelgeschäft […]. Bergmann hieß das, und der Junge war ein ganz fieser Kerl. Gerade diesen kleinen Lebensmittelgeschäften ging es zu der Zeit nicht gut, und denen hatte Hitler ja versprochen, dass es dem Mittelstand besser gehen sollte. Auf jeden Fall, die Nazis waren dran, da rief als Einziger dieser Junge an, der Sohn von dem Bergmann: „Oller Jud, oller Jud!“ und so weiter, und ich war ja nun bärenstark damals durch den Sport, und ich hab mir den genommen und hab den tüchtig vertrimmt. Daraufhin ist der reingelaufen schreiend und hat seinen Vater geholt, und der Vater kam raus: „Du Juden-Rotzlöffel, ich schlag dich tot!“ und da bin ich weggelaufen und bin zum Wichlinghauser Bahnhof gelaufen und inzwischen hatte er zwei SS-Leute mobil gemacht […]. Die hat er dann dahinbeordert, dass die vor unserem Haus in der Freiheitstraße Wache gestanden haben, bis ich nach Hause gekommen bin. Und, nun war ich natürlich raffiniert, wir wohnten an einer Ecke, und da bin ich von hinten über den damaligen Herzogplatz, Görlitzer Platz, herum über einen Hof, über das Tor geklettert und bin dann rauf und hab natürlich gezittert, meine Mutter sagte: „Was ist denn los? Die ganze Straße ist in Aufruhr!“ […] und dann hat meine Mutter heimlich am Fenster geguckt, wie ich schon oben war, und abends sind die dann abgezogen, die dachten, ich käm gar nicht nach Hause. […] Da wurde mir klar, dass ich gar nicht mehr der war, der ich vorher gewesen bin, dass ich eigentlich rechtlos bin […]Archiv Begegnungsstätte Alte Synagoge Wuppertal: L 09, Ordner A 10.6, MUF 191.
Im September 1935 traten die „Nürnberger Gesetze“ in Kraft, ohne nennenswerten Protest in der Bevölkerung hervorzurufen. Sie schufen die Basis aller folgenden Ausnahmeregelungen gegen Juden. In erster Linie zielten sie auf die absolut strenge soziale Isolierung der Juden von der deutschen „Volksgemeinschaft“, indem „gemischtrassige“ Freundschaften missbilligt, gemischte Eheschließungen verboten und sexuelle Beziehungen unter Strafe gestellt wurden. Aber auch ökonomisch wirkten sich die Bestimmungen verschärfend aus.
In Wuppertal veröffentlichte die NSDAP-Kreisleitung eine Broschüre mit den Namen und Adressen aller jüdischen Eigentümer und Betreiber von Geschäften, Arztpraxen und Rechtsanwaltskanzleien in Wuppertal, versehen mit vielen zynisch-antisemitischen Sprüchen auf jeder Seite des Heftchens. Paul Freimuth, Leiter des für die Herausgabe verantwortlichen NSDAP-Kreisamts, beschwor in seinem Vorwort Käufer, Klienten, Kollegen und Patienten:
Jeder soll überprüfen, ob er nicht in irgendeiner Form durch Beruf oder andere Verpflichtungen mit Juden in Verbindung steht. Nur durch den fanatischen Einsatz eines jeden können wir einen Zustand erreichen, der dem Ideal der Rassereinheit entspricht.NSDAP Kreisleitung Wuppertal, Amt Handwerk und Handel (Hg.): Juden in Wuppertal, o.O., o.J. [vermutlich Wuppertal 1935] (Archiv Begegnungsstätte Alte Synagoge Wuppertal: BAS 0159.
Bei der Firma Bär hatte die 16jährige Helga Feldheim eine Ausbildung machen sollen, aber dieser Plan scheiterte:
Ich wollte nach der Schule, das war 1936, auf eine […] Handelsschule, ja. Sprachen lernen und Tippen und Steno, da wurde ich nicht aufgenommen, weil ich die Tochter von dem Juden Feldheim war. Wir waren relativ bekannt in Barmen, mein Vater jedenfalls, und dann war da noch ein Freund, ein jüdischer Freund, der hatte noch ein Warenhaus, und der wollte mich dann in die Lehre nehmen, da könnte ich aus der Praxis lernen. So haben die zwei Männer das verabredet.
Doch bis ich von der Schule runter war, da war das Warenhaus gerade schon „arisiert“ worden. […] Bär hieß das. Es war wie ein Kaufhof, nur klein. Es war nicht so groß wie der Kaufhof, aber es war doch ein ganz gut sortiertes Warenhaus. Und nach einer Woche hat man dann Beschwerden gegen mich gemacht, jetzt wäre der Jude gerade raus und da käme so ein kleines jüdisches Mädchen da wieder rein und das ging nicht. Das war dann das Ende meiner Karriere. Meine Schwester und ich haben dann den Haushalt gemacht.Archiv Begegnungsstätte Alte Synagoge Wuppertal: F 03, Ordner A 10.3, A 10.6, MUF 262.
Seit Juli 1938 hatten alle Jüdinnen und Juden eine besondere Kennkarte mit sich zu führen. Sie war mit einem roten „J“ bedruckt und vom Inhaber mit dem zusätzlichen Zwangsnamen „Sara“ (bei Mädchen und Frauen) bzw. „Israel“ (bei Jungen und Männern) zu unterschreiben. Bei allen Behördengängen musste die Kennkarte unaufgefordert vorgelegt werden. Als mit Beginn des Krieges im September 1939 für die ganze Bevölkerung die üblichen Rationierungen für Lebensmittel, Kleidung und Gebrauchsgüter durch entsprechende Karten eingeführt wurden, bekamen jüdische Familien eigene Karten mit dem aufgedruckten Wort „Jude“. Einkaufen durften sie nur noch am späten Nachmittag für eine Stunde, die Bezugsmengen waren noch begrenzter als die für die „deutschblütige Volksgemeinschaft“, und manche Lebensmittel bekamen sie später überhaupt nicht mehr, z.B. Fleisch, Eier und Vollmilch.
Im September 1941, drei Monate nach Beginn des Eroberungs- und Vernichtungskriegs gegen die Sowjetunion, führte die nationalsozialistische Regierung die Kennzeichnung mit einem gelben „Judenstern“ für alle Jüdinnen und Juden ein, die das sechste Lebensjahr vollendet hatten. Dies war der letzte öffentliche Schritt einer zuvor undenkbaren Radikalisierung, eine Mischung aus obszöner Propagandahetze und abgrundtiefer Demütigung – ein Schock für die Betroffenen.
Leo Löwenthal aus Wuppertal-Ronsdorf schrieb am 20. September 1941 an seine bereits in die Niederlande emigrierten Kinder Trude und Herbert Katz:
Von dem neuen Orden, den wir tragen müssen, habt Ihr sicher auch schon gehört? Man muß dies auch mit Würde ertragen […]. Ich war Freitag schon damit aus, so hat man es am schnellsten überwunden. Wenn nichts Schlimmeres kommt – auch gut.Archiv Begegnungsstätte Alte Synagoge Wuppertal: L 12, Ordner A 10.2. MUF 164.
Am 5. Februar 1944 schrieb die Solingerin Margarete Österreicher an Gustav Brück, den Gemeindevorsitzenden in Wuppertal:
Sehr geehrter Herr Brück […] Es war im Sept. 41, daß mein lb. Mann der Qual ein Ende machte. Er war Handwerker und hätte mit dem Abzeichen nicht mehr seinem Beruf nachgehen können und man fand ihn genau an diesem 19. Sept. Ich habe alles verloren und muss sehen mit Allem fertig zu werden. Hochachtungsvoll Marg. ÖsterreicherArchiv Begegnungsstätte Alte Synagoge Wuppertal: B 10, BAS 0454 Zentralkartei.
Die Isolierung von nichtjüdischen Freunden und Bekannten, die Erfahrung der Konzentration in bestimmten Wohnungen und Häusern, die öffentliche Demütigung durch die Kennzeichnung und der schnelle Vormarsch der Deutschen Wehrmacht im Osten markierten ab Herbst 1941 für Juden den bedrohlichen Horizont eines vom nationalsozialistischen Deutschland beherrschten und „rassisch neu geordneten“ Europas, in dem für sie kein Platz vorgesehen war.
Die „Polenaktion“, Oktober 1938Zu diesem Kapitel Schrader, Ulrike: Zerbrochene Zukunft. Der Pogrom gegen die Juden in Wuppertal im November 1938, Wuppertal 2018.
Am 28. Oktober 1938 wurden im gesamten Deutschen Reich rund 17.000 Juden mit polnischer Staatsangehörigkeit verhaftet mit dem Ziel, sie nach Polen abzuschieben.
Betroffen davon war auch die Elberfelder Familie Banker. Der Sohn Max erinnerte sich später:
Dann kam der tragische Moment des Oktober 1938. […] Ganz plötzlich kamen Polizei-Zivilbeamte zu uns ins Haus. Das war zur Mittagszeit. Ich kam zur Mittagspause von der Werkstatt. Das war nicht weit, wir wohnten in der Mathildenstraße und die Werkstatt war in der Kleinen Klotzbahn, ich kam für eine Stunde nach Hause. Ich sah plötzlich die Rollladen, das Geschäft zu, was ein unnormales Zeichen für mich war, und fand da zwei Männer. Da sagte mein Vater, das wären Polizeibeamte, die geben uns eine halbe Stunde Zeit, uns anzuziehen, Koffer mitzunehmen, und […] wir werden abgeführt zur Polizei in der Von-der-Heydt-Gasse und abtransportiert zur polnischen Grenze.Archiv Begegnungsstätte Alte Synagoge Wuppertal: Ordner B 03, A 10.1, MUF 17, 18, 19.
Den Hintergrund dieser auch als „Polenaktion“ bezeichneten Maßnahme bildeten kompromisslose politische und diplomatische Auseinandersetzungen zwischen Deutschland und Polen im Sommer und Herbst 1938 in der Frage nach dem Status und dem zukünftigen Verbleib der etwa 60.000 im Deutschen Reich lebenden Juden polnischer Staatsangehörigkeit. Nach dem „Anschluss“ Österreichs im März 1938 befürchtete die polnische Regierung eine massenhafte Rückkehr ihrer im Ausland lebenden jüdischen Staatsbürger. Um das zu verhindern, bestimmte sie Mitte Oktober 1938, dass jeder im Ausland lebende polnische Staatsbürger seinen Pass dem zuständigen Konsulat zur Registrierung vorzulegen habe, andernfalls die Pässe nach dem 29. Oktober ihre Gültigkeit verlieren würden.
Aus deutscher Sicht ergab sich daraus „ein Klumpen von 40.000-50.000 staatenlosen ehemaligen polnischen Juden“So der deutsche Staatssekretär Ernst von Weizsäcker (1882-1951) in einem Gespräch mit dem polnischen Botschafter, zit. nach Maurer, Trude: Abschiebung und Attentat. Die Ausweisung der polnischen Juden und der Vorwand für die „Kristallnacht“, in: Kristallnacht, in: Pehle, Walter H. (Hg.): Der Judenpogrom 1938. Von der „Reichskristallnacht“ zum Völkermord, Frankfurt a.M. 1988, S. 67. im Deutschen Reich, die man nicht mehr nach Polen hätte ausweisen können. Deshalb sandte Heinrich Himmler, der Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei, am 26. Oktober 1938 ein Fernschreiben an Behörden und Gestapostellen, in dem er diese anwies,
unter Einsatz aller Kräfte der Ordnungs- und Sicherheitspolizei und unter Zurückstellung anderer Aufgaben alle polnischen Juden, die im Besitz gültiger Pässe sind, sofort […] in Abschiebehaft zu nehmen und unverzüglich nach der polnischen Grenze in Sammeltransporten abzuschieben. Die Sammeltransporte sind so durchzuführen, daß die Überstellung über die polnische Grenze noch vor Ablauf des 29. Oktober 1938 erfolgen kann. Es muß erreicht werden, daß eine möglichst große Zahl polnischer Juden, namentlich der männlichen Erwachsenen, rechtzeitig vor dem genannten Zeitpunkt über die Grenze nach Polen geschafft wird.Zit. nach Goldberg, Bettina: Die Zwangsausweisung der polnischen Juden aus dem Deutschen Reich im Oktober 1938 und die Folgen, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 46 (1998), S. 971-984, S. 974.
Die Maßnahme traf die polnischen Juden im Deutschen Reich unvermittelt.
Moritz Kupfermann (1911-1966) aus der Werléstraße in Wuppertal-Oberbarmen hat bereits im November 1938 über das, was ihm während der „Polenaktion“ passierte, berichtet.Das „Jewish Central Information Office (JCIO)“ in Amsterdam hatte unmittelbar nach dem Novemberpogrom damit begonnen, Augenzeugenberichte aus allen Teilen des Reiches zusammenzutragen. Sämtliche Berichte wurden erstmals 2008 veröffentlicht: Barkow, Ben/ Gross, Raphael/ Lenarz, Michael (Hg.): Novemberpogrom 1938: Die Augenzeugenberichte der Wiener Library, London-Frankfurt a.M. 2008. Ihn hatten Verhaftung und Ausweisungsverfügung auf dem Polizeirevier ereilt:
Am 28. Oktober war ich in Elberfeld, wo ich geschäftlich zu tun hatte. Ich ging dann zur Fremdenpolizei, um meinen Aufenthalt, der am 1. November ablief, verlängern zu lassen, um meine Auswanderung nach Nordamerika weiter betreiben zu können. Der Beamte kam nach 5 Minuten zurück und schickte mich in Begleitung eines anderen Beamten angeblich zum Polizeipräsidenten. Ich wurde aber ins Polizeigefängnis gebracht. Der Gefängnisbeamte erklärte: „Sie kommen in Abschiebungshaft.“ […] Nach einer Stunde waren schon zehn Polen in der Zelle. Erst dann wurden die Personalien aufgenommen. Die Pässe wurden einbehalten. In Elberfeld waren etwa 200 Polen verhaftet, Männer, Frauen und Kinder. […] Je 40 kamen dann in einen 3. Klasse-Wagen. Von den Beamten wurden wir anständig behandelt. Jeder Wagen bekam Wurstbrote und eine grosse Kanne Kaffee. Die Wagen wurden dann verschlossen. Auf den Stationen, durch die wir fuhren, durfte kein Fenster geöffnet werden. Es ging über Hannover, Berlin, Frankfurt a. d. Oder nach Neu-Bentschen. Dort wurden wir ausgeladen und in einen polnischen Zug gesetzt. […] Sonnabend, den 29. Oktober um ½ 8 Uhr kamen wir in Alt-Bentschen an.Barkow, a.a.O., S. 96f.
Neu-Bentschen lag noch auf deutschem, Alt-Bentschen bereits auf polnischem Territorium und heißt in der Landessprache Zbąszyń. Weil bewaffnete polnische Posten den Weg versperrten, ließen die deutschen Begleitmannschaften die Zuginsassen schon vor der Ankunft an der Grenzstation aussteigen, um sie über die unbewachte grüne Grenze zu treiben. Unter Beschimpfungen, Drohungen, Warnschüssen und dem Gebell scharfer Hunde jagten Polizei und SS die völlig verängstigten Menschen durch Wälder und über Wiesen zur Grenze. Frauen mit kleinen Kindern und Kinderwagen, gebrechliche alte Menschen – auf niemanden wurde Rücksicht genommen. Als sich die Lage am Abend des 29. Oktober weitgehend beruhigt hatte und fast alle Abgeschobenen die Baracken in Zbąszyń erreicht hatten, lagen entlang der Wege und verstreut auf den Wiesen Hunderte in Panik und Todesangst zurückgelassene Gepäckstücke.
Als die Abschiebeaktion aber am 29. Oktober eingestellt wurde und Transporte, die noch nicht an der Grenze angelangt waren, wieder umkehrten, beruhigte sich die Situation auf dem Grenzstreifen. Der Begriff „Niemandsland“ fand wohl in späteren Berichten deshalb so häufig Verwendung, weil er die Situation der Abgeschobenen tatsächlich treffend charakterisierte: aus Deutschland gewaltsam verjagt, in Polen nicht willkommen.
Der Pogrom in Wuppertal, November 1938
In den frühen Morgenstunden des 10. November 1938 wurden die beiden großen Synagogen in Elberfeld und Barmen angezündet und zerstört – reichsweit waren es mehr als 1000 Gotteshäuser. Die beiden kleineren Beträume in der Luisenstraße und an der Hochstraße, die Friedhofskapellen, zahlreiche Geschäfte und Wohnungen wurden verwüstet und geplündert, Menschen angegriffen, verletzt und verhaftet.Eine ausführliche und detailreiche Darstellung der Pogrome in Wuppertal ist: Ulrike Schrader: Zerbrochene Zukunft. Der Pogrom gegen die Juden in Wuppertal im November 1938, Wuppertal 2018. Die Presseberichte der nächsten Tage sollten den Eindruck erwecken, die Bevölkerung habe in einem Akt „spontaner Empörung“ auf das Attentat in Paris reagiert.
Der Hausmeister der Elberfelder Synagoge in der Genügsamkeitstraße, Ernst Beinhauer, erinnerte sich später:
In der ersten Brandnacht, es war meiner Erinnerung nach in der Nacht zum 10. November 38, kam ich gegen 1 Uhr in meiner Wohnung im Verwaltungshaus, welches mit der Synagoge verbunden ist, an. Ich bin vorher durch die Synagoge gegangen, ich habe jedoch nichts Verdächtiges festgestellt. Anschließend legte ich mich zu Bett, im Keller des Verwaltungshauses. Ich wurde durch Frau Kestings, meine Hausgehilfin, geweckt und ging mit ihr und meiner Frau in das Büro, welches durch eine Holztüre von der Synagoge getrennt ist. Unter den Tischen waren schon Pechfackeln, die brannten. Wir versuchten zuerst mit Wasser, das Feuer zu löschen. Als wir einige Eimer Wasser getragen hatten, wurden wir aufgefordert, die Synagoge zu verlassen. […] Ich sah aber, wie Feuerwehrleute die Bänke mit Benzin aus Kanistern beschütteten, sie schlugen auch die Decke vom Dach auf, damit der Rauch abziehen konnte. […] Die Feuerwehr war den ganzen Tag über da. […] Anschließend wurde das Innere der Synagoge wieder von Feuerwehrmännern angesteckt.NRW Hauptstaatsarchiv Rep. 5, Nr. 1273.
Nur wenige Menschen halfen den bedrängten Juden in dieser aufgeheizten Stimmung. Einer von ihnen war der Spediteur Eduard Ludwig, den die Gemeindemitglieder Clara Samuel und Dr. Cläre Tisch verängstigt und besorgt um Hilfe gebeten hatten, wenigstens das Inventar der Synagoge zu retten.
Ludwig schrieb am 13. November 1962:
Am 10. November 1938 in der Frühe kamen jüdische Geschäftsfreunde (Frau Samuel und Fräulein Dr. Tisch) in meinem [sic.] Haus und baten um meine Unterstützung bei einem beabsichtigten Rettungsversuch der in der Elberfelder Synagoge im Brande liegenden Inventargegenstände. Ohne Zögern stellte meine Firma die angeforderten Automöbelwagen mit den für die erforderlichen Transportarbeiten infragekommenden Fahrern und Packern zur Verfügung.
Tausende Neugierige und „Maulaffen“ füllten die Genügsamkeitstraße und um den Neumarkt angrenzenden Straßenzüge, und sahen den Feuerlöscharbeiten zu, sodaß erst die Polizei kommen musste, – leider habe ich den Namen des zuständigen Polizei-Offiziers von der damaligen „von-der-Heydtsgasse“ vergessen – Polizei-Hauptmann Kaiser?? -, um die Genügsamkeitstraße vom St. Josefs-Hospital aus talwärts freizumachen, damit unsere schweren Automöbelfahrzeuge die Straße passieren konnten.
Es ist mir heute noch unerklärlich, dass bei diesem sensationellen Transportauftrag unter der Masse, die die ganze Straße und Umgebung füllte, keiner ein Streichholz in der Tasche hatte, um der „Volkswut durch Anzünden meiner Fahrzeuge „Genüge“ zu tun!!Eduard Ludwig am 13.11.1962 an die Jüdische Kultusgemeinde Wuppertal (Archiv Begegnungsstätte Alte Synagoge Wuppertal): UF M 18
Bei den Anschlägen auf jüdische Gemeindeeinrichtungen, Geschäfte und Wohnungen wurden in Wuppertal mindestens 70 jüdische Männer verhaftet, in Polizeigewahrsam genommen und später in das Konzentrationslager Dachau verschleppt. Sie kamen erst wieder frei, nachdem ihre Ehefrauen, Mütter, Töchter oder Schwestern durch Visa die geplante Ausreise aus Deutschland nachweisen konnten. Die meisten der Männer waren vor Weihnachten 1938 wieder zu Hause.
Die bisher bekannten Todesopfer der antijüdischen Ausschreitungen und ihrer direkten Folgen sind Dr. Theo und Elli Plaut, Johanna Sieradzki und Alfred Fleischhacker.Zu diesem merkwürdigerweise immer noch vernachlässigten Forschungsfeld s. Fleermann, Bastian/ Genger, Gerd/ Jakobs, Hildegard/ Schatzschneider, Immo: Gedenkbuch für die Toten des Pogroms 1938 auf dem Gebiet des heutigen Bundeslandes Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 2019.
Konzentration in Wohnungen
Im Frühjahr 1939 traten neue Bestimmungen in Kraft, die die Wohnsituation der Juden bedeutend verschlechterten. Jüdische MieterInnen wurden genötigt oder auch gezwungen, ihre Wohnungen zu verlassen. Das Ziel dieser Maßnahmen war neben der „Rassentrennung“ die Konzentration der Juden und Jüdinnen an wenigen, überschaubaren Adressen.
In den Verordnungen über „Mietverhältnisse mit Juden“, die seit April 1939 erlassen wurden, hieß es u.a.:
Juden genießen gegenüber einem nichtjüdischen Vermieter keinen gesetzlichen Mieterschutz, wenn der Vermieter durch eine Bescheinigung der Gemeindebehörde nachweist, dass die anderweitige Unterbringung des Mieters gesichert ist. […] Ein Jude hat in ihm gehörigen oder ihm von einem Juden vermieteten Wohnräumen auf Verlangen der Gemeindebehörde andere Juden als Mieter oder Untermieter aufzunehmen. Juden dürfen leerstehende oder freiwerdende Räume nur mit Zustimmung der Gemeindebehörde neu vermieten.
Die Gemeinde soll in die Lage versetzt werden, für die planmäßige Lösung von Mietverhältnissen mit Juden zu sorgen, ohne daß eine Obdachlosigkeit jüdischer Familien eintritt. […] In jüdischem Eigentum stehende Häuser sind für Judenwohnungen zu bevorzugen; Ghettobildung ist aber nicht erwünscht. Anwendung von Zwang nur, wenn ein Bedürfnis dazu besteht. Soweit erforderlich, kann der den Juden zur Verfügung zu stellende Raum eingeengt werden, insbesondere durch Unterbringung mehrerer jüdischer Familien in von Juden bewohnten größeren Wohnungen.Walk, Joseph (Hg.): Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat. Eine Sammlung der gesetzlichen Maßnahmen und Richtlinien. Inhalt und Bedeutung, Heidelberg 1996, S. 292f.
Die VermieterInnen mussten mögliche Ausweichquartiere angeben, aber in der Praxis scheint es oft so gewesen zu sein, dass die Ausgewiesenen zunächst bei Verwandten oder Bekannten Unterkunft fanden. Familien rückten auf diese Weise eng zusammen. Aber auch Fremde und sogar Menschen, die erst jetzt nach Wuppertal gezogen waren, mussten in diesen Häusern und Wohnungen untergebracht werden.
Besonders geeignet zur Unterbringung ausgewiesener Juden erschienen den Behörden jüdische Heime und Krankenhäuser. In Wuppertal war dies das Altersheim an der ehemaligen Königstraße (seit 1938 „Straße der SA“, seit 1946 „Friedrich-Ebert-Straße“). Hier lebten im Sommer 1942, vor ihrer Deportation nach Theresienstadt am 20. Juli, mindestens 75 Personen. Viele der meistens älteren und alleinstehenden Menschen waren erst kurz zuvor aus dem näheren und weiteren Umland gezwungenermaßen nach Wuppertal gezogen.
Anhand der Deportationslisten und der darin mit besonderer Häufigkeit genannten Wohnadressen lassen sich über 20 Zwangsunterkünfte feststellen. Eine Untersuchung der Fragen, warum welche Personen und Familien zusammengezogen sind, wie groß die Entscheidungsspielräume noch waren und wie sich dieses Zusammenleben im Alltag praktisch gestaltete, steht noch aus.
Fest steht: Die Einrichtung dieser mehr oder weniger unter Zwang entstandenen Sammelunterkünfte verschärfte die soziale Isolation der Juden. Die nationalsozialistischen Behörden konnten die NachbarInnen zur Kontrolle und Überwachung in Anspruch nehmen und hatten selbst die Möglichkeit, jederzeit auf die jüdischen BewohnerInnen zugreifen zu können: Die Häuser waren besonders gekennzeichnet und durften nicht abgeschlossen werden.
Die bisher als Zwangsunterkünfte für die jüdische Bevölkerung identifizierten Häuser sind nach aktuellem Kenntnistand und unter Vorbehalt:
- Adolf-Hitler-Straße 283 (heute Haspeler Straße 57), Eigentümer Julius Spier
- Bahnhofstraße 14, Eigentümer Siegfried Elsbach
- Bleicherstraße 8, Eigentümer Paul Ollendorf
- Bleicherstraße 10, Eigentümer Dr. Eugen Rappoport
- Bleichstraße 22 (heute Teil der Bundesallee zwischen Brausenwerth und Bembergstraße), Eigentümer Ernst Bode (nichtjüdisch)
- Borkumer Straße 30, Eigentümer Karl Ulrich
- Briller Straße 34, Eigentümer Max Inow
- Deutschherrnstraße 19, Eigentümer Moses Löwenthal
- Distelbeck 21, Eigentümer Moritz Meyer
- Emilstraße 3, Eigentümer Friedrich Jonas
- Gartenstraße 24, Eigentümer Josef Röttgen
- Grünstraße 22, Eigentümerin Witwe Heinrich Dehler (nichtjüdisch)
- Hellerstraße 6, Eigentümerin Fa. Nordstern Versicherung AG (nichtjüdisch)
- Luisenstraße 124, Eigentümer Samuel Zuckermann
- Nüllerstraße 52, Eigentümer Gottfried Barmé
- Siegesstraße 84, Eigentümer Erben Rothschild
- Stephanstraße 9, Eigentümer Jüdische Gemeinde
- Straße der SA 73 (heute Friedrich-Ebert-Straße), Eigentümerin Jüdische Gemeinde
- Tannenbergstraße 12, Eigentümer Karl Simon
- Unterdörnen 114, Eigentümer Otto Schneider (nichtjüdisch)
- Von der Tann-Straße 1, Eigentümer Julius Kann
- Weinberg 4, Eigentümer Jüdische Gemeinde
- Weststraße 2, Eigentümerin Fa. Korff & Honsberg, Remscheid (nichtjüdisch)
- Weststraße 76, Eigentümer Siegfried Wertheim
- Wilbergstraße 4, Eigentümer Fritz Coppel
- Wilhelmstraße 25a, Eigentümer Erben Feuerzeug
- Wortmannstraße 38, Eigentümer Leonhard Leven
- Wülfingstraße 19a, Eigentümer Artur Hermann
- Zollstraße 11, Eigentümer Dr. Paul Wetzstein