Jüdische Reaktionen

Centralverein und Kulturbund

Als Reaktion auf die zahlreichen Einschränkungen im Alltag suchten die Juden nach Alternativen – anfangs zunächst in der Hoffnung, dass die neue Regierung bald wechseln und die früheren Zustände wieder hergestellt würden. Jüdische Jugendliche verbrachten ihre Freizeit in neu gegründeten jüdischen Sportvereinen, Erwachsene besuchten Theateraufführungen und Konzerte des seit 1933 bestehenden „Jüdischen Kulturbundes“, der schon 1893 gegründete „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ intensivierte seine Aufklärungsarbeit und Rechtsberatung und veröffentlichte im hauseigenen „Philo-Verlag“ Handbücher zum Judentum und zur jüdischen Auswanderung.

Philo-Lexikon
Philo-Lexikon Bildnachweis: Begegnungsstätte Alte Synagoge Wuppertal, Christoph Schönbach

Als auch der Schulbesuch zunehmend eingeschränkt wurde, gründete man jüdische Notschulen. Jugendliche, die dem Zionismus nahestanden, gingen „auf Hachschara“, d.h. sie erlernten in landwirtschaftlichen Ausbildungsbetrieben einen praktischen Beruf, der sie auf die Auswanderung nach Palästina vorbereitete. Viele Jüdinnen und Juden, Erwachsene, Jugendliche und Kinder, nahmen privaten Englischunterricht, um sich in einem noch unbekannten Exilland verständigen zu können.

Jüdischer Kegelclub „Kol tess“
Jüdischer Kegelclub „Kol tess“ Bildnachweis: Archiv Begegnungsstätte Alte Synagoge
Jüdischer Tennisclub
Jüdischer Tennisclub Bildnachweis: Archiv Begegnungsstätte Alte Synagoge
Jüdischer Sportverein, 1937
Jüdischer Sportverein, 1937 Bildnachweis: Archiv Begegnungsstätte Alte Synagoge

Bald nach der Machtübernahme gründete sich im Sommer 1933 der „Jüdische Kulturbund“. Damit sollten den jüdischen Berufsschauspielern und Berufsmusikern, neue Wirkungs- und Erwerbsmöglichkeiten geschaffen werden. Für das jüdische Publikum wurde zugleich ein eigenes Kulturangebot geschaffen. Allerdings stand der Kulturbund stets unter der Aufsicht der Gestapo. Es gab eine Zensur und unangemeldete Kontrollbesuche der Veranstaltungen durch Gestapobeamte.

Ab 1934 wurden im ganzen Reichsgebiet regionale und lokale Kulturbünde gegründet, die ihre Stärken in unterschiedlichen Sparten hatten, so dass die Produktionen auf Tourneen durch das ganze Land gingen und überall Theater, Konzerte, Opern, Vorträge, Lesungen und Kleinkunst angeboten werden konnten.

Seit Ende 1933 gab es auch in Wuppertal Veranstaltungen des Kulturbundes. Der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Wuppertal-Elberfeld, Gustav Brück, war zum Vorstandsmitglied des „Kulturbundes Rhein-Ruhr“ gewählt worden. Ihm war die Rolle des Bundes als kulturelle jüdische Selbsthilfeorganisation sehr bewusst, und so mahnte er die Mitglieder mit Nachdruck an, Verantwortung, Einigkeit und Solidarität zu beweisen.

Rechtsanwalt Gustav Brück, Vorsitzender der jüdischen Gemeinde
Rechtsanwalt Gustav Brück, Vorsitzender der jüdischen Gemeinde Bildnachweis: Stadtarchiv Wuppertal

Gustav Brück schrieb:

Eine weitere soziale Verpflichtung aber hat der Kulturbund auch gegenüber den Gemeinden und ihren Mitgliedern. Indem er sich die prinzipale Aufgabe gestellt hat, den jüdischen Menschen mit ihren heute so zahlreichen und verschiedenen Nöten durch Freude seelischen Halt zu geben, soll und kann er wahrhaft gemeinschaftsbildend wirken. Denn er will und soll allen jüdischen Menschen ohne Unterschied geistige und seelische Erhebung vermitteln, und ist daher, wenn er seine Aufgabe erfüllt, wie kaum eine andere jüdische Einrichtung in der Lage, die sozialen und wirtschaftlichen Unterschiede, die Unterschiede der religiösen und sonstigen „Richtungen“ im deutschen Judentum zu überbrücken. In dieser Beziehung sind Programmgestaltung und Mitgliedsbeitrag von wesentlicher Bedeutung.Archiv Begegnungsstätte Alte Synagoge Wuppertal: BAS 0405-0410 (Mitteilungen Nr. 1, 2. Jahrgangs, Oktober 1934).

Die Veranstaltungsorte des Kulturbundes in Wuppertal waren zunächst die Säle und Räumlichkeiten verschiedener Gesellschaftsvereine und die Stadthalle. Am 14. März 1935 kam es dort zu einem gewaltigen Eklat: Der Jüdische Kulturbund hatte im Majolika- bzw. Gelben Saal (heute Mendelssohn-Saal) einen Diavortrag über den Maler Max Liebermann angeboten, während zur selben Zeit im Großen Saal eine Veranstaltung des NS-Winterhilfswerks stattfand, so dass das Publikum – Juden und Nationalsozialisten – sich in den Treppenhäusern und Flanierbereichen begegnen musste. Am nächsten Tag empörte sich die nationalsozialistische „Rheinische Landeszeitung“ über die Planung des Stadthallenpächters, die zu dem aus ihrer Sicht unzumutbaren Zusammentreffen mit dem jüdischen Publikum geführt hatte:

Unglaublich, aber wahr! Unverschämtheit des Elberfelder Stadthallenpächters. Stelldichein der Juden in der Stadthalle
Als am gestrigen Abend Tausende von Amtswaltern, Helfern und Helferinnen der NS-Volkswohlfahrt zu der großen Arbeitstagung des Winterhilfswerks, über die wir in unserer morgigen Ausgabe berichten werden, kamen, bot sich ihnen in der Wandelhalle der Elberfelder Stadthalle ein eigentümliches Bild. Die gesamten Juden Wuppertals hatten sich eingefunden zu einer Versammlung des „Jüdischen Kulturbundes“ und machten sich in der Wandelhalle vor der Garderobe breit, und das in dem Augenblick, wo der große Saal der Stadthalle sich füllte mit den ehrenamtlichen, uneigennützigen Helfern am Winterhilfswerk.
[…] Damit wir nicht mehr von solchen Gestalten durch ihre Ansicht belastet werden, ordne ich hiermit, abgesehen von noch abgeschlossenen Veranstaltungen, mit sofortiger Wirkung eine Veranstaltungssperre für die Stadthalle Wuppertal-Elberfeld an. Wir werden auch mit kleineren Räumen auskommen, und wenn sie zu klein sind, können wir auch auf öffentlichen Plätzen tagen.Rheinische Landeszeitung vom 15.3.1935.

Als Ausweichquartier des Jüdischen Kulturbundes wurde nun zunächst der Frauenklub in der Luisenstraße 45 in Wuppertal genutzt, aber auch die Elberfelder Synagoge an der Genügsamkeitstraße, dann ab Mai 1936 die Räume der Loge in der Hofaue 69, die Hofaue 70 und ab 1937 das „Appelsche Haus“ in der Herzogstraße 12.

Emigration und Fluchtländer

Schon 1933 gab es eine erste größere Fluchtwelle. Zehntausende deutsche Jüdinnen und Juden verließen ihre Heimat und versuchten, in einem der Nachbarländer, vor allem in Belgien, in den Niederlanden und in Frankreich, neu Fuß zu fassen. Auch die „Nürnberger Rassegesetze“ vom September 1935, die Juden aus der „deutschen Volksgemeinschaft“ ausschlossen, drängten viele zur Emigration. Mit dem Pogrom im November 1938 verschärfte sich die Situation dramatisch.

Bis Ende 1938 hatte sich die wirtschaftliche Lage der noch in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden so zugespitzt, dass praktisch alle, die noch Gewerbe ausübten, diese unter Zwang aufgeben mussten. Ohne Einkommen und nach zahlreichen finanziellen Repressionen wie die „Judenvermögensabgabe“ im April oder die so genannte „Sühneleistung“ nach dem Novemberpogrom im November 1938 lebten die verbliebenen Juden vielfach deutlich unter der Armutsgrenze, so dass ihre Auswanderungschancen zusätzlich sanken.

Alija-Spiel
Alija-Spiel

Lebten in Wuppertal im Jahr 1933 noch 2.471 Juden (0,6% der Gesamtbevölkerung), so waren es, nach einer Volkszählung vom 17. Mai 1939 also wenige Monate nach dem Pogrom im November 1938, noch 1.093 (0,3%). Nach diesen Erhebungen war es also zwischen 1933 und 1939 1.378 Menschen gelungen zu emigrieren.

Nach dem Kriegsbeginn am 1. September 1939 verschärfte sich die Situation für Juden schlagartig. Die antijüdische Politik des NS-Staates radikalisierte sich mit dem Krieg und vor allem nach dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 drastisch. Durch das am 23. Oktober 1941 erteilte Auswanderungsverbot war deutschen Juden eine Flucht aus Nazi-Deutschland gänzlich versperrt. Nicht mehr ihre Vertreibung war das Ziel, sondern ihre Ermordung – und mit ihnen auch aller im deutschen Herrschaftsbereich, also in den von Deutschland besetzten Gebieten Europas, lebenden Juden. Im Herbst 1941 fuhren die ersten Todeszüge mit Tausenden von Juden zu den Ghettos und Konzentrationslagern in Osteuropa.

 

Belgien

Ein nahegelegenes Fluchtland war Belgien, wo die Menschen vor allem in der Anonymität der Großstädte Brüssel und Antwerpen bis zum Ende der Verfolgung ausharren wollten.

Aber als am 10. Mai 1940 die deutschen Truppen in Belgien einmarschierten, war es auch hier nicht mehr sicher, denn Deutsche wurden nun durch die Polizei kontrolliert und vor allem nach Südfrankreich abgeschoben. Die französische Gendarmerie überführte die Flüchtlinge in der Regel in das französische Internierungslager St. Cyprien am Fuß der Pyrenäen. Unter diesen waren z.B. die Wuppertaler Hermann Harry David und Julius Goldschmidt.

Wer den Verhaftungen entgehen konnte, blieb weiterhin ständig in der Gefahr, entdeckt, verhaftet und abgeschoben zu werden. Einige Kinder konnten in belgischen Kinderheimen versteckt überleben.

Ab August 1942 wurden Juden bei Razzien verhaftet und in das belgische „Judendurchgangslager“ Mechelen (Malines) bei Antwerpen überführt, darunter auch der aus Wuppertal nach Belgien geflüchtete Walter Gottschalk. Dieses Lager war von der SS in der „Dossin-Kaserne“ im Juli 1942 eingerichtet worden, weil die Brüsseler Zentralstelle für jüdische Angelegenheiten im Monat zuvor durch das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) in Berlin beauftragt worden war, die Deportation der Juden in Belgien vorzubereiten. Zwischen dem 1. August 1942 und dem 31. Juli 1944 verließen 28 Deportationszüge das Lager.

 

Niederlande

Das andere nahe Fluchtland waren die Niederlande. Doch nach der Besetzung der Niederlande durch deutsches Militär im Mai 1940 konnten sich die Flüchtlinge nicht mehr frei bewegen und unterlagen den scharfen Bestimmungen der Besatzer. Als „Reichsstatthalter“ für die besetzten Niederlande wurde der österreichische NS-Funktionär Arthur Seyß-Inquart eingesetzt. Er verwaltete das besetzte Gebiet, war zuständig für die Rekrutierung niederländischer Zwangsarbeiter und für die Verfolgung der dort lebenden rund 140.000 Juden, von denen ca. 22.000 aus Deutschland und Polen eingewandert oder geflüchtet waren – darunter auch das bekannte Mädchen Anne Frank und ihre Familie aus Frankfurt.

„Judenstern“ in niederländischer Sprache aus dem Nachlass von Sally Rau aus Elberfeld
„Judenstern“ in niederländischer Sprache aus dem Nachlass von Sally Rau aus Elberfeld Bildnachweis: Archiv Begegnungsstätte Alte Synagoge

Ab Sommer 1942 wurden die bei Razzien aufgegriffenen jüdischen Flüchtlinge im so genannten „Judendurchgangslager“ Westerbork interniert, so zum Beispiel auch die Familie von Siegfried Aaron aus der Moltkestraße oder der Arzt Dr. Julius Loeb aus der Hermann-Göring-Straße (heute Neumarktstraße).

Das Lager Westerbork war bereits 1939 von der niederländischen Regierung als Aufnahmeunterkunft für die jüdischen Flüchtlinge aus den von Deutschland bereits annektierten und besetzten Gebieten eingerichtet worden. Erst im Juli 1942 wurde es unter unmittelbarer Verwaltung der deutschen Besatzer als „polizeiliches Judendurchgangslager“ einem SS-Lagerkommandanten unterstellt.

Seit 1942 deportierten immer wieder neue Züge die Menschen aus Westerbork zu den Vernichtungslagern Sobibór und Auschwitz-Birkenau. Sechs Transporte führten in das Ghetto Theresienstadt, acht Transporte in das Konzentrationslager Bergen-Belsen in der Nähe von Celle, darunter waren Ida Aaron aus Elberfeld und das Ehepaar Herta und Sally Goldmann aus Barmen. Der letzte Deportationszug verließ das Lager Westerbork am 3. September 1944. Insgesamt wurden aus den Niederlanden etwa 107.000 Juden deportiert und ermordet, darunter viele Menschen aus Wuppertal.

In wenigen Fällen gelang es mit der Unterstützung niederländischer Helfer, mit gefälschten Papieren ausgestattet, unterzutauchen oder sich bei einer niederländischen Familie zu verstecken. Der Elberfelder Junge Wolfgang Kotek, heute Rotterdam, konnte so überleben. Auch im Versteck drohte beständig die Gefahr, verraten oder durch Zufall entdeckt zu werden. Hinzu kamen Gefährdungen, weil die Untergetauchten mit Lebensmitteln versorgt und medizinisch betreut werden mussten. Auch war es keine Selbstverständlichkeit, dass man sich mit den Menschen gut vertrug, und so kam es zu riskanten Quartierwechseln oder zum Verrat.

 

Frankreich

Nach dem Einmarsch der Deutschen Wehrmacht im Mai 1940 zeichnete sich sehr bald eine Niederlage ab, so dass schon am 22. Juni 1940 der „Waffenstillstand von Compiègne“ geschlossen wurde. Demnach wurde Frankreich in zwei Zonen geteilt: Der größte Teil des Landes, darunter Paris, der Norden und ein Streifen im Westen kamen unter deutsche Besatzung, während der unbesetzte Süden von einer französischen Regierung unter Henri Philippe Pétain stand, das so genannte „Vichy-Regime“.

Die seit dem Beginn des „Westfeldzugs“ im Mai 1940 aus Belgien kommenden jüdischen Flüchtlinge trafen auf viele weitere tausende aus Deutschland, Österreich, Polen, Spanien und Italien. Schon seit 1933 suchten sie Asyl in Frankreich oder warteten hier auf ein Visum oder ihre Schiffspassage in ein amerikanisches Land, wie z.B. die Wuppertaler Familie Alfred und Dr. Ilse Loew, geb. Dahl mit ihrer kleinen Tochter Anne, die 1939 in Paris geboren worden war.

Nicht nur im von Nazi-Deutschland besetzten Teil Frankreichs wurden Juden, gleich welcher Nationalität, verfolgt, sondern auch „in Vichy“ wurden Gesetze gegen sie eingeführt, darunter 1942 auch die Kennzeichnung mit dem „Judenstern“. In der unbesetzten Zone im Süden lagen auch die Internierungslager, in denen u.a. Juden festgehalten wurden.

In der Provence befand sich das Lager Les Milles auf dem Gelände einer stillgelegten Ziegelei und das Lager Gurs, etwa 80 Kilometer von der spanischen Grenze entfernt. Fehlende Hygiene und medizinische Versorgung und vor allem die einseitige und knappe Verpflegung waren eine Katastrophe für die Internierten. Hier waren auch der Langerfelder Karl Bernhard Frankenberg und Bernhardine Schwarz aus Elberfeld.

In Kooperation mit den deutschen Behörden begannen im Juli 1942 die französische Polizei und Verwaltung, die ausländischen und französischen Juden in die Vernichtungslager zu deportieren. In der Regel verbrachte man die Menschen zunächst in das „Durchgangslager“ Drancy, 20 Kilometer nordöstlich von Paris. Dorthin brachte man auch die Wuppertaler Familie Altmann, die sich schon seit 1935 in Romainville bei Paris eine neue Existenz aufgebaut hatte. Den Sohn Jacques, der nach seiner Flucht aus dem Polizeigefängnis in Paris im Winter 1941/42 im Süden in einer Widerstandsgruppe in Nantes untergetaucht und enttarnt worden war, brachte man im Jahr 1943 dorthin. Seine ganze Familie war von Drancy aus genau ein Jahr zuvor in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert worden – nur Jacques überlebte auch dieses Lager.

Das Durchgangs- und Sammellager Drancy wurde 1940 im Rohbau der Wohnsiedlung „Cité de la Muette“ zunächst für die Inhaftierung von Kriegsgefangenen eingerichtet. Nach einer Razzia im August 1941 in Paris wurden auch und vor allem Juden dort interniert. Das Lager stand unter französischer Verwaltung; erst im Juni 1943 wurde das Lager den Deutschen unterstellt. Alois Brunner, ein enger Mitarbeiter von Adolf Eichmann, wurde im Juli 1943 Leiter eines Sonderkommandos der Gestapo im Lager Drancy. 22 Transporte mit Juden gingen unter Brunners Kommando nach Auschwitz.

Von den 75.000 zwischen März 1942 und August 1944 aus Frankreich deportierten Juden waren etwa 63.000 zuvor im Lager Drancy. Das Ziel der meisten Transporte aus Drancy war Auschwitz-Birkenau, aber auch in die Vernichtungslager Majdanek und Sobibór gingen Züge.

 

Kindertransporte

Am 15. November 1938, eine Woche nach den antijüdischen Ausschreitungen, wurde der Besuch von öffentlichen Schulen für jüdische Kinder und Jugendliche gänzlich verboten. Nach der Panik, den der Pogrom in den jüdischen Familien ausgelöst hatte, setzte sich die Erkenntnis durch, dass es in Deutschland keine Zukunft mehr für ihre Kinder geben würde.

Aber es gab kaum Länder, die bereit waren, jüdische Flüchtlinge aus dem Deutschen Reich aufzunehmen. In dieser Situation willigte die britische Regierung ein, Kinder und Jugendliche in England einreisen zu lassen. Dies geschah auch mit diplomatischem Kalkül, denn Großbritannien hatte kein Interesse an einer Einwanderung jüdischer Flüchtlinge ins britische Mandatsgebiet Palästina. Mit dem Angebot, Kinder und Jugendliche im Mutterland aufzunehmen, glaubte man, die restriktive Palästinapolitik moralisch wieder gutzumachen.

Passfotos von jüdischen Kindern aus Wuppertal
Passfotos von jüdischen Kindern aus Wuppertal Bildnachweis: Archiv Begegnungsstätte Alte Synagoge

Es waren einige Bedingungen an dieses Zugeständnis geknüpft: Die Jugendlichen mussten unter 17 Jahre alt sein und durften in England weder Arbeitsplätze besetzen noch dem staatlichen Sozialwesen zur Last fallen. Die Reise und die Bereitstellung von Unterkünften (Pflegefamilien oder Heime) mussten die Juden selbst organisieren und auch bezahlen.

Flüchtlingsorganisationen und auch einflussreiche nichtjüdische Persönlichkeiten wurden hier aktiv. So viele Kinder wie möglich sollten aus dem Deutschen Reich in Sicherheit gebracht werden. Bis zum Kriegsbeginn im September 1939, der weitere „Kindertransporte“ unmöglich machte, konnten etwa 10.000 Kinder auf diese Weise gerettet werden, vom Säugling bis zu jungen Erwachsenen. Die meisten von ihnen sahen ihre Eltern, die zurückblieben, nie wieder.

Die 1923 geborene Lore Heimann aus der Sophienstraße 12 in Elberfeld konnte als Sechzehnjährige mit einem so genannten Kindertransport entkommen.

Eines Tages hörten wir von den Kindertransporten. Die Jüdische Gemeinde war gut informiert, und so erfuhren meine Eltern wohl davon. Ich glaube, die obere Altersgrenze lag bei sechzehn Jahren, aber vielleicht irre ich mich, vielleicht waren es auch siebzehn Jahre. Jedenfalls kam ich gerade noch in einen dieser Transporte, zusammen mit meiner damals dreizehnjährigen Schwester. Mein Vater kannte einen Ingenieur, der in England lebte, und zu dem hatte er meinen Bruder bereits im Februar 1939 in die Lehre geschickt.

Mein späterer Ehemann, Alfred Auerbach, war damals mit dem Mann befreundet, der im Oxford Committee for Refugees für die Kindertransporte verantwortlich war. „Ich brauche die Namen von möglichst vielen Kindern,“ erklärte er mir, und ich sammelte so viele Namen, wie ich nur konnte. Ich schickte ihm Fotografien der Kinder nach England, und dazu jede Menge Namen. Das Komitee in Oxford suchte dann Pflegefamilien. Da die Nazis das Judentum nicht als Religion, sondern als Rasse definierten, mussten auch alle Kinder fliehen, die entweder aus Mischehen stammten oder jüdische Vorfahren hatten. Wir alle waren für sie Juden. […]

Der Transport, mit dem wir fuhren, wurde vom Internationalen Roten Kreuz organisiert. Es gab auch Transporte, die von den Quäkern oder den Jüdischen Gemeinden unterstützt wurden, soweit ich mich erinnere. Wir mussten uns in Düsseldorf einfinden, am 27. Juni 1939, also kurz vor Ausbruch des Krieges. Wir fuhren mit dem Zug dorthin, und meine Eltern begleiteten uns. Meine Mutter hatte mir ein Dutzend Paar Seidenstrümpfe mitgegeben. Nylon gab es nicht. Sie dachte, ich würde mir dort niemals irgendetwas leisten können. Die Strümpfe hielten sehr lange. Wir durften nur einen Koffer, einen Rucksack und zehn Reichsmark mitnehmen, das war alles. Zehn Reichsmark. Ich glaube, das waren gerade einmal vierzehn Shilling. Als wir uns schließlich aus dem Zug von unseren Eltern verabschiedeten, standen sie natürlich gleich neben dem Fenster. Aber als wir abfuhren, wurden sie von den SA-Männern auf die andere Seite des Bahnsteigs gedrängt, so dass sie nicht mehr ganz nah bei uns waren. Meine Mutter konnte nicht aufhören zu weinen, für mich aber begann ein großes Abenteuer. So zumindest empfand ich es damals, mit meinen sechzehn Jahren.

An der holländischen Grenze bekamen wir von den holländischen Frauen belegte Brote, zumindest glaube ich, mich daran zu erinnern. Und sobald wir die Grenze überquert hatten, war alles ganz anders, weil die Nazis plötzlich verschwunden waren. Meine Schwester erinnert sich daran, dass wir Schokolade bekommen haben. Die war damals in Deutschland sehr knapp. Mit dem Schiff setzten wir nach Harwich über, und von dort ging es mit dem Zug weiter zur Liverpool Street Station. Ich glaube, man hatte einen Sonderzug organisiert, weil wir so viele waren. Einige der Kinder auf unserem Transport kamen aus Wuppertal. Ich erinnere mich, dass auch Hannelore Meier mit diesem Transport nach England kam. Die Liverpool Street Station war das Erste, was ich von England sah, und sie kam mir vor wie ein großes schwarzes Loch, denn damals war es noch ein sehr düsterer und schmutziger Bahnhof mit vielen Dampflokomotiven. Und eben dieses schwarze Loch, die Liverpool Street Station, war für mich England.Archiv Begegnungsstätte Alte Synagoge Wuppertal: Ordner A 10.5, H 01.

Aus Wuppertal konnten mit den Kindertransporten mindestens 37 Kinder und Jugendliche gerettet werden:

Doris Aronowitz, Esther und Sonja Bareinski, Günther Baum, Margret Berger, Margot und Ruth Berger, Ursula und Leni Censer, Gerd und Susi Davids, Anneliese und Doris Eichmann, Werner Frank, Mary und Rolf Glicksmann, Eva Goldmann, Hans Haltrecht, Lore und Ursula Heimann, Renate Inow, Bernhard Israel, Moritz und Dora Kaplan, Heinz Marowilsky, Hannelore Julie Meier, Heinz Johannes Meyer, Herbert Meyer, Hermann Meyer, Werner Michels, Hannelore Miedzinski, Arnold Ostwald, Salomon Seide, Chaim Herbert Silberberg, Eva Anne Stern, Hans Wassermann, Rainer Fritz Wihl.

Quellen