
Karl Salomon Marcus
Karl Salomon Marcus wurde am 18. Juni 1912 als unehelicher Sohn der Jüdin Sophie Markus in Elberfeld geboren. Sein Vater war der in den Gestapo-Akten so genannte „Deutschblütige“ Wuppertaler Karl Cleff.
Nach dem Besuch der Volksschule machte Karl Salomon Marcus, genannt „Sally“ in Elberfeld eine Ausbildung zum Polsterer und Dekorateur. Seine Mutter wanderte schon 1926 in die USA nach Hollywood aus, ließ ihren 14 Jahre alten Sohn bei ihrer Schwester Antonie, verheiratete Römer, vorerst zurück, um ihn dann später nachkommen zu lassen, woraus allerdings nichts wurde.
Sally Marcus wohnte nun bei seiner Tante und ihrer Familie in der Heinrichstraße 26. 1933, gerade 21 Jahre alt, heiratete Sally die Nichtjüdin Alwine Schönberger, mit der er in einer Wohnung in der Reitbahnstraße 17 lebte. Im Februar 1938 wurde Sally bei der Firma Dohrmann in Remscheid zur Zwangsarbeit verpflichtet.
Die Ehe scheiterte, so dass Sally und Alwine sich 1939 wieder scheiden ließen und Sally später wieder zurück zu seiner Tante zog, die mittlerweile in der Kleinen Bandstraße 3 lebte. Ob sich die Eheleute zur Scheidung unter dem Druck der Nationalsozialisten entschieden hatten oder ob sie sich einfach nicht mehr gut verstanden haben, geht aus den erhaltenen Akten nicht hervor.
Im Mai 1939 trat Sally offiziell aus der jüdischen Gemeinde aus. Vermutlich hatte er gehofft, dadurch der Verfolgung eher entgehen zu können, denn er ließ sich jetzt auch nicht mehr „Sally“, sondern mit seinem anderen Namen „Karl“ rufen. Aber diese Strategie war ein Irrtum, wie sich herausstellen sollte.
Am 20. Juli 1942 musste sich Sally Marcus` Tante Antonie Römer mit vielen weiteren Jüdinnen und Juden auf dem Bahnhof Wuppertal-Steinbeck einfinden, um nach Theresienstadt ins Ghetto deportiert zu werden. Dies war der vierte und vorläufig letzte Transport aus Wuppertal – mit ihm waren insgesamt fast 900 jüdische Bürgerinnen und Bürger aus Wuppertal deportiert worden, und nur die allerwenigsten überlebten.
Sally lebte nun allein in der Kleinen Bandstraße 3.
Am 31.7.1942 stellte die Gestapo Strafanzeige gegen Marcus: „Bei dem nebenbezeichneten Markus handelt es ich um den jüdischen Mischling 1. Grades, der nach § 5, Abs. 2a der Ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 14.11.1935 als Jude gilt, da er erst am 8.5.1939 seinen Austritt aus der jüdischen Religionsgemeinschaft erklärt hat. Wie weiter festgestellt wurde. Trägt M. auch nicht den Judenstern.“
Am Tag zuvor war Marcus nämlich bei der NSDAP, Kreisleitung Wuppertal, von einer Nachbarin, Hedwig Birkenfeld, denunziert worden. Sie gab zu Protokoll:
Seit Ende 1935 wohne ich im Hause W.-Elberfeld, Kleine Bandstraße 5. In derselben Straße wohnt mir gegenüber im Hause Nr. 8 die deutschblütige Ehefrau Berg. Sie ist Kriegerfrau und befindet sich ihr Ehemann im Osten.
Ich habe nun mehrmals beobachten müssen, dass Frau Berg des öfteren in ihrer Wohnung von einem jungen Mann besucht wird, wovon gesagt wird, dass dieser Jude sein soll. Es handelt sich hier um den bei der am 21.7.1942 [richtig: 20.7.1942] evakuierten Jüdin Römer wohnhaften Karl Markus. Ich selbst habe gesehen, dass er in der vergangenen Woche sich mehrere Stunden in der Wohnung der Berg aufgehalten hat. Das Fenster der Berg stand offen und konnte man in das Zimmer hineinsehen. Man hörte Lachen und konnte auch sehen, dass Markus am Tische saß und dort aß. Ich muss hierzu erwähnen, dass es sich bei der Berg um eine Frau handelt, die vor ihrem Fenster immer viele Männer stehen hat und dass wir Kriegerfrauen durch diese Frau in einem schlechten Ruf kommen. Fast sämtliche Anwohner unserer Straße sind über das Tun der Berg empört. Vor einigen Tagen kam ich an einem Fenster meiner Wohnung. Ich musste unwillkürlich zur Wohnung der Berg hinübersehen. Sie stand mit dem Markus am offenen Fenster. Als sie mich sah, schimpfte sie mich mit gemeinen Redensarten aus. So wie sie es mit mir gemacht hat, macht sie es auch mit allen anderen Frauen. Ich war hierüber sehr empört und habe bei der Kreisleitung der NSDAP eine Anzeige erstattet. Es ist aber nicht richtig, dass ich dort gesagt habe, dass in der Wohnung der Berg Liebesszenen stattfinden. Den Judenstern hat Markus niemals getragen. Als Zeugen für meine Angaben kann ich sämtliche Hausbewohner meines Hauses angeben.
Ganz anders stellt sich der Sachverhalt aus der Perspektive der nun vernommenen Nachbarin Erna Berg dar:
In derselben Straße, wo ich wohne, wohnte bis zum 21.7.42 mir gegenüber eine gewisse Frau Römer. Mir war nicht bekannt, dass diese Frau eine Jüdin war. Sie wurde am 21.7.42 [richtig: 20.7.1942] evakuiert. Eine Tochter der Frau Römer hat mir hier und da meinen Flur geputzt, da ich bei der Straßenbahn beschäftigt bin und einen unregelmäßigen Dienst habe. Durch Fräulein Römer habe ich den hier beschuldigten Karl Salomon Markus kennengelernt, der seit Okt. 1941 bei der Frau Römer wohnt. Er hat in meiner Wohnung Lampen und Luftschutzrollen in Ordnung gemacht. Aus diesem Grunde ist er auch mehrmals in meiner Wohnung gewesen. Ich bestreite aber entschieden, mit Markus ein Verhältnis unterhalten zu haben. Wenn dieses behauptet wird, so beruhen die Angaben auf Unwahrheit. Ich bestreite auch entschieden, mit ihm in intimer Verbindung gestanden zu haben. Mir war nicht bewusst, dass Markus ein Jude ist bzw. als Jude gilt.
Es ist richtig, dass ich anlässlich der Evakuierung der Jüdin Römer mit zum Bahnhof gegangen bin. Dieses ist aber niemals aus Sympathie für die Juden geschehen, sondern bin ich nur mitgegangen wie auch andere Bewohner unserer Straße es getan haben, weil die Jüdin Römer eine Nachbarin von uns war.
Den schwerwiegenden Fall von „Rasseschande“ konnten die Ermittlungen gegen Karl Marcus nicht nachweisen. Wohl aber die „Straftat“, den „Judenstern“ nicht getragen zu haben, was Marcus auch offen zugab.
Marcus wurde also verhaftet und dreieinhalb Monate im Polizeigefängnis in Unterbarmen festgehalten und anschließend in das Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar deportiert. Als Begründung wurden keine Fakten, sondern Prognosen genannt: In Freiheit würde er sich weiterhin behördlichen Anordnungen gegen Juden widersetzen.
So kam Sally Marcus am 13. Dezember 1942 von Buchenwald nach Auschwitz. Dort wurde er am 22. April 1943 ermordet – das Standesamt Auschwitz führt ihn unter der Sterbenummer 9815/1943. Im Totenschein an den Vater wurde die Todesursache verschleiert mit der Diagnose: „Verstorben an Herzmuskelentzündung“.
Ob man gegen Erna Berg noch weiter ermittelt hat, geht aus den Akten nicht hervor. Bekannt hingegen ist, was mit der „Jüdin Römer“ weiter geschah: Antonie Römer ist einer von überhaupt nur drei bekannten Fällen unter mehr als 40.000 aus Deutschland nach Theresienstadt deportierten Menschen, die vorzeitig wieder entlassen wurden. Am 12. Mai 1944 konnte sie wieder nach Wuppertal zurückkehren, weil es ihrem Sohn Alfred gelungen war, alle Familienpapiere so zu fälschen, dass die jüdische Identität nicht mehr nachgewiesen werden konnte. Wie sie nach ihrer Heimkehr die Denunziation ihres Neffen, seine Verschleppung und seine Ermordung aufgenommen hat und welche Atmosphäre nun in der Nachbarschaft der Kleinen Bandstraße herrschte, kann man sich kaum vorstellen.
Bildnachweis
- Begegnungsstätte Alte Synagoge Wuppertal