Dr. Klara Tisch, gen. Cläre

  • Geburtsdatum: 14.01.1907
  • Geburtsort: Elberfeld
  • Beruf: Volkswirtin
  • Wohnort:

    Kaiserstraße 46 (später Walther-Rathenau-Straße, dann Hermann-Göring-Straße, heute Neumarktstraße), Distelbeck 21 (zwangsweise)

  • Todesdatum: nach 10.11.1941
  • Todesort: Ghetto Minsk oder Vernichtungsstätte Maly Trostenez

In der Nacht zum 10. November 1938 demolierten fanatische Judenhasser das Innere der Elberfelder Synagoge und legten Feuer. Am Morgen kamen Mitglieder des Gemeindevorstands zusammen, um über die notwendigsten Maßnahmen zur Rettung des Inventars zu beraten. Dr. Cläre Tisch, die bereits seit mehreren Jahren aktiv in der Sozialarbeit der jüdischen Gemeinde tätig war, und Clara Samuel, die Vorsitzende des Jüdischen Frauenbundes, baten die Spedition Ludwig Esser um Hilfe.

Am 10. November 1938 in der Frühe, kamen jüdische Geschäftsfreunde (Frau Samuel und Fräulein Dr. Tisch) in mein Haus und baten um meine Unterstützung bei einem beabsichtigten Rettungsversuch der in der Elberfelder Synagoge im Brande liegenden Inventargegenstände, so erinnert sich der Spediteur Eduard Ludwig im November 1962.

Ziel war es, wenigstens das Mobiliar der Synagoge, Bänke, Pulte, Schränke und Wertgegenstände, vor der Zerstörung und Plünderung zu retten.

Cläre Tisch war 1907 als Tochter des Lebensmittelhändlers Leo Tisch, genannt „Eier-Tisch“, und seiner Frau Adele in Elberfeld geboren worden. Sie war die mittlere zwischen zwei Schwestern: Maria, geboren 1904, und Gerda, geboren 1914, die gehörlos war, und für die die älteren Schwestern nach dem frühen Tod der Eltern (1923 bzw. 1932) die Verantwortung zu übernehmen hatten. Cläre besuchte die realgymnasiale Studienanstalt in Unterbarmen und studierte nach ihrem Abitur ab dem Sommersemester 1926 Volkswirtschaftslehre an den Universitäten Bonn, Genf und Berlin. In Bonn bestand sie im Juli 1929 die Diplomprüfung für Volkswirte und begann danach unter der Betreuung von Peter Alois Schumpeter mit der Anfertigung ihrer Dissertation zu dem von diesem angeregten Thema über „Wirtschaftsrechnung und Verteilung im zentralistisch organisierten sozialistischen Gemeinwesen“, mit der sie nach Ablegung der mündlichen Prüfung am 31. Juli 1931 die Doktorwürde erlangte. Bis 1933 war sie Angestellte der Universität Bonn und weiterhin wissenschaftlich tätig. Das war ab 1933, dem Machtantritt der Nationalsozialisten, nicht mehr möglich.

Nach ihrem erzwungenen Ausscheiden arbeitete sie zunächst als Stenotypistin in Köln und Kontoristin in einem Solinger Schuhgeschäft, bis sie 1936 Sekretärin in der „Zentrale für jüd. Pflegestellen u. Adoptionsvermittlung, Kinder- und Mutterschutz des jüd. Frauenbundes e.V.“ mit Sitz in der Verwaltung der jüdischen Gemeinde Elberfeld, Genügsamkeitstraße 7. Wurde. Diese Aufgabe erfüllte sie mit großem Engagement und letztlich mit dem Einsatz ihres Lebens. Trotz der Fürsprache ihres Doktorvaters Schumpeter gelang es ihr nicht mehr, in die USA auszuwandern.

Am 12. März 1933 schrieb Sie an Schumpeter:

Was haben wir denn für eine Jugend gehabt? Wir, in deren Kinderjahre der Krieg fiel, die dann durch Revolution und Inflation gingen und die wir jetzt, wo man noch ein bisschen jung sein könnte, uns in Wirtschafskrise, Zukunftsunsicherheit und schließlich Bürgerkrieg aufreiben? Unsere schönsten Jahre sind uns so verkümmert worden … und wenn es wirklich mal wieder besser wird – wir haben nicht die Spannkraft mehr, darauf zu hoffen, und wenn wir sie jetzt noch haben, dann haben wir später nicht mehr die Kraft, uns der besseren Zeit zu erfreuen. Ist es nicht schrecklich, wenn man schon mit 26 Jahren keinen Zukunftsglauben mehr hat – – wenn man schon mit 26 die „Eiswüste“ vor sich sieht?

Am 10. November 1941 musste sich Cläre Tisch gemeinsam mit ihren Schwestern Gerda und Maria, ihrem Schwager Louis Leo Marcus und ihrer Nichte Arnhild Adele am Bahnhof Steinbeck einfinden. Mit fast 250 weiteren jüdischen Männern, Frauen und Kindern aus dem Bezirk Wuppertal wurde die Familie in das Ghetto von Minsk verschleppt, das der Zug am 14. November erreichte.

Danach gab es keine Nachricht mehr von den Schwestern Tisch. Ob sie die Fahrt überhaupt überlebten, ob sie noch im Ghetto erschossen oder erschlagen oder erst später im Vernichtungslager Maly Trostenez ermordet wurden, kann nicht mehr festgestellt werden.

Cläre Tisch war 34 Jahre alt.

Im Archiv der Harvard University befindet sich auch der letzte Brief von Dr. Cläre Tisch an ihren Doktorvater. Noch am 8. November 1941 hatte sie ihm geschrieben:

Ich gehe übermorgen aus Wuppertal fort und weiß noch nicht, wie meine neue Adresse sein wird, weiß auch nicht, ob ich sie Ihnen mitzuteilen Gelegenheit haben werde.

Diesen Brief hat Schumpeter nicht geöffnet.

Bildnachweis


  • Begegnungsstätte Alte Synagoge Wuppertal

Quellen


Archiv Begegnungsstätte Alte Synagoge Wuppertal: Deportationsliste Minsk; Ulrich Hedtke, Schumpeter Archiv: 12 Briefe von Cläre Tisch an Joseph Alois Schumpeter vom 12.3.1933 bis zum 8.11.1941 und ein Brief von Schumpeter an Tisch vom 13.6.1941; Archive d` État de Genève; Harvard University Archives, W 369757_1; Zedakah. Zeitschrift der jüdischen Wohlfahrtspflege, hg. von der Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden, Nr. 1-4, Berlin 1925-1928; Jüdische Wohlfahrtspflege und Sozialpolitik. Zeitschrift der Zentralwohlfahrtspflege und der Abt. Wirtschaftshilfe bei der Reichsvertretung der Juden in Deutschland, 1929 (1. Jg.) bis1936 (6. Jg.); Blätter des jüdischen Frauenbundes für Frauenarbeit und Frauenbewegung, hg. vom Jüdischen Frauenbund von Deutschland, Berlin